Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
dargestellt, unter der antisoziale, amoralische und egoistische
Leidenschaften brodeln.« 11 Das Merkwürdige ist, dass die Fassadentheorie vor allem bei Biologen sehr beliebt ist. Die gleichen Forscher, die richtigerweise darlegen, dass sich unsere höheren geistigen Fähigkeiten aus dem Tierreich entwickelt haben, halten die Moral im biologischen Sinne gerne für »uneigentlich«.
Das in Deutschland berühmteste Beispiel dieser Ansicht von der Moral als einer dünnen Fassade ist der österreichische Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903-1989). In seiner Theorie der »Gen-Kultur-Koevolution« hält Lorenz die menschliche Fähigkeit zur Moral zwar für natürlich, aber er beurteilt sie gegenüber anderen tierisch-menschlichen Verhaltensweisen als aufgesetzt und unterlegen. 12 Im Lichte einer solchen Theorie sind Selbstsucht, Aggressivität, Hass und Totschlag viel »eigentlicher« als Fürsorge, Hingabe, Sympathie und Liebe. Je älter eine Eigenschaft des Menschen ist, je weiter man sie zurückverfolgen kann in die Welt der Reptilien oder der Fische, umso stärker soll sie das Wesen des Menschen bestimmen. Unser ganzes Verhalten gehorche »all jenen Gesetzlichkeiten … die in allem phylogenetisch entstandenen instinktiven Verhalten obwalten«. 13
Eine überzeugende Erklärung dafür, warum das Ältere unweigerlich das Dominantere sein soll, liefert Lorenz allerdings nicht. Warum sollte die Evolution in ihrer Kraft so nachgelassen haben, dass sie beim Menschen nur noch schwache Eigenschaften hinzugefügt hat? Könnte es nicht auch umgekehrt sein? Die kulturelle Evolution, die uns in die Lage versetzt, Menschenrechte zu verkünden, Wolkenkratzer zu bauen und Computer zu programmieren, und den Menschen nahezu einzigartig erscheinen lässt - sollte sie nicht auch starke und dominante Spuren in unserem Sozialverhalten hinterlassen haben?
Nicht wissenschaftliche Erkenntnis, sondern Weltanschauung diktiert hier die Spielregeln. Es ist dabei durchaus nicht nötig, vom Nationalsozialismus inspiriert zu sein, wie Lorenz es war. Gnadenloser noch treibt der US-amerikanische Evolutionsbiologe
Michael T. Ghiselin (*1939), heute Forschungsprofessor an der California Acadamy of Science, diese Weltsicht auf die Spitze. Sein Urteil über die brutale Menschennatur findet sich in dem Buch: The Economy of Nature and the Evolution of Sex (Die Ökonomie der Natur und die Entwicklung der Sexualität) aus dem Jahr 1974. Ghiselins Position ist so radikal, dass sein berüchtigtster Satz hier einmal im ganzen Kontext wiedergegeben werden soll. Nicht zuletzt deshalb, weil mein Kritiker von der Buchmesse hier die schärfste Munition für seine Kanonen gegen die Macht der Zivilisation findet: »Die Evolution der Gesellschaft entspricht dem Darwinismus auf der höchsten Ebene des Individualismus. Nichts in ihr verlangt danach, auf andere Weise erklärt zu werden. Wenn man ihre Ökonomie versteht und wie sie funktioniert, so sieht man, was allen Phänomenen zu Grunde liegt. Hier finden sich die Mittel und Wege, wie ein jeder Organismus versucht, gegenüber den anderen einen Vorteil zu ergattern. Kein einziges Indiz auf eine ursprüngliche Fürsorge stützt unsere Vision der Gesellschaft, wenn man alle Sentimentalitäten einmal beiseitelässt. Was uns wie Kooperation erscheint, erweist sich als eine Mischung aus Opportunismus und Ausbeutung. Auch die Antriebe, die ein Tier dazu bewegen, sich für ein anderes zu opfern, haben ihre letzte Vernunft darin, sich gegenüber Dritten Vorteile zu verschaffen. Und Taten ›für das Gute‹ der einen Gesellschaft sind immer gegen eine andere gerichtet. Wo es seinen eigenen Interessen entspricht, unterstützt ein Lebewesen verständlicherweise seine Angehörigen. Wenn es keine andere Möglichkeit sieht, ordnet es sich der Gemeinschaft unter. Aber gib ihm die Chance, gemäß seinem eigenen Interesse zu leben, so wird es nichts als Zweckdienlichkeit davon abhalten, gewalttätig zu sein, zu verstümmeln und zu morden - seinen Bruder, seinen Ehepartner, seine Eltern oder seine Kinder. Kratz einen ›Altruisten‹, und du siehst einen Heuchler bluten.« 14
Diese Passage ist sehr eindrucksvoll. Die kindliche Spielverderberei,
mit der auch heute noch vor allem naturwissenschaftlich interessierte Männer allen sozialen Instinkten und aller feinfühligen Moral eine Absage erteilen, findet hier ihren radikalsten Ton. Doch auf engstem Raum so viel durcheinanderzubringen ist ohne Zweifel eine Kunst. Erstaunlich ist
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