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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Lagerfeuer über ein Bett aus frischgeschnittenen Tannenzweigen gebreitet wird«. 2
    Im Alter von 25 Jahren kehrt Kropotkin zurück nach St. Petersburg. Seine erstaunlichen Beobachtungen der sibirischen Natur machen ihn zu einem gefragten Mann in der Fachwelt. Aber der Fürstensohn will keine Koryphäe der Naturforschung werden. Er möchte sein Wissen anwenden, um die erbärmlichen Lebensverhältnisse der russischen Landbevölkerung zu verbessern. Auf seiner Reise in die Schweiz verkehrt er unter dortigen Revolutionären und den noch viel radikaleren Flüchtlingen aus Frankreich. Dort hat die Staatsmacht soeben die Pariser Kommune zerschlagen. Als überzeugter Anarchist irrt Kropotkin in den Folgejahren zwischen Russland, England, Frankreich und der Schweiz hin und her. Er wird verhaftet, in St. Petersburg eingekerkert, bricht aus dem Gefängnis aus, flieht in die Schweiz, wird ausgeliefert und in Frankreich zu fünf Jahren Haft verurteilt. Durch internationalen Druck vorzeitig entlassen, geht der nun 44-Jährige nach London.
    In England wird Kropotkin freundlich aufgenommen. Mittlerweile
sieht er aus wie sein Zeitgenosse Leo Tolstoj, mit einem gewaltigen Rauschebart, aber mit Nickelbrille und viel freundlicher als der Literat. Auch Kropotkin entfacht nun eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Von russischen Spitzeln belauscht und beobachtet schreibt er ungezählte Zeitungsartikel über soziale Fragen und staatliche Organisation und fasst seine Vorstellungen in Büchern zusammen. Sein wichtigstes veröffentlicht er im Jahr 1902. Mit wachsendem Unbehagen hatte Kropotkin sehen müssen, wie die von ihm begeistert verfochtenen Ideen Darwins von den Herrschenden missbraucht wurden. Der »Kampf ums Dasein« und das »Überleben der Tauglichsten«, Begriffe, die Darwin aus fremden Quellen in sein Buch Über die Entstehung der Arten eingearbeitet hatte, fanden sich nun überall in einer konservativen Gesellschaftstheorie wieder. Der »Sozialdarwinismus« machte die Runde, eine völlig unlautere Verfremdung von Darwins Gedanken mit denkbar schrecklichen Folgen für die Gesellschaft.
    Kropotkin protestiert. Viele Passagen in Darwins Buch waren ohne Zweifel dunkel und missverständlich geraten. Wie funktionierte das »Überleben der Tauglichsten«? War das tatsächlich ein »Kampf aller gegen alle« wie bei Thomas Hobbes? Konnte man seine Tauglichkeit fürs Überleben denn nicht auch dadurch steigern, dass man zusammenhielt und sich wechselseitig half? Die sibirischen Dörfer waren voll mit Menschen, die nur deshalb überlebten, weil sie geschickt miteinander kooperierten. Wer den russischen Winter kannte, der sah den »Kampf ums Dasein« nicht so sehr unter den Menschen. Sondern er sah vielmehr das »Überleben der tauglichsten Gemeinschaften« im Kampf gegen die raue Natur.
    Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, so der Titel des Buches, sei ein zentrales Naturgesetz. Angeregt durch einen Vortrag von Karl Kessler, dem Dekan der St. Petersburger Universität, hat Kropotkin den Gedanken immer weiter verfolgt. Im Jahr 1887 wagt er sich in Manchester an einen Vortrag mit dem Thema »Gerechtigkeit und Sittlichkeit«. Der Kontrahent,
an dem er sich abarbeitet, ist kein Geringerer als Thomas Henry Huxley. Man kann sich die Situation kaum prekär genug vorstellen. Ein russischer Adeliger, der sich zum Anarchismus bekennt, verbessert vor den Engländern in ihrem Heimatland deren größte Leistung der jüngeren Wissenschaft - die Evolutionstheorie. Die wichtigste Nachricht des Russen lautet: Auch Tiere besitzen elementare Voraussetzungen zur Moral. Und unsere Vorfahren in der Frühgeschichte seien gewiss nicht roh und amoralisch gewesen, sondern kooperativ.
    Kropotkin schreibt eine Serie von Artikeln gegen die »völlige Entstellung« der Evolutionsgesetze durch Huxley. Er berichtet von Ameisen und Bienen, von Möwen und Krähen, von Kranichen und Papageien, Füchsen und Wölfen, von Löwen, Eichhörnchen und Murmeltieren. Überall entdeckt er nicht nur Kooperation, sondern auch Zugeständnisse an das Gemeinwohl der Schwärme, Rudel, Rotten, Gruppen, Herden und Horden. Er sieht eigennützigen Gemeinsinn ebenso wie uneigennützigen. Ob bei der Brutpflege, beim Jagen, beim Vermeiden von Konflikten oder beim Schutz von Artgenossen - Zusammenarbeit und Teamgeist, Selbstlosigkeit und Fürsorge, wohin das Forscherauge blickt. »Fit« in Darwins Sinne müssen nicht nur die einzelnen Tiere sein, sondern die Fitness einer Tierart

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