Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
auch, dass dieser Text im Jahr 1974 veröffentlicht wurde; zu einer Zeit also, als die Primatenforscherin Jane Goodall schon seit Jahren Gegenteiliges von den Schimpansen in Tansania berichtete: von »freundlichen« und »unfreundlichen« Charakteren, von Liebesbindungen von Müttern und Kindern weit über jede biologische Abhängigkeit hinaus und von der Anteilnahme verschiedener Tiere füreinander ohne jeden ersichtlichen Vorteil oder Zweck. 15
Ich vermute überdies, der eine oder andere Leser wird es für unwahrscheinlich halten, dass der einzige Grund, der ihn von der Ermordung seiner Eltern und Geschwister abhält, die »Zweckmäßigkeit« ist. Und er wird annehmen, dass die Frage nach der egoistischen Natur des Menschen und seiner biologischen Schlechtigkeit wohl doch noch einer etwas genaueren Prüfung bedarf als jener von Ghiselin. Die Antwort aber, so viel sei schon vorweggenommen, ist nicht einfach. Und sie fällt in sich verblüffend widersprüchlich aus.
In Extremsituationen reagieren viele - wenn auch nicht alle - Menschen extrem. Sie können brutal sein, rücksichtslos oder panisch. Und diese Reaktionen haben durchaus etwas mit unserem instinktiven biologischen Erbe zu tun. Doch warum soll dieses Krisenfall-Verhalten »eigentlicher« sein als all unsere anderen Verhaltensweisen? Was sollte uns nach heutigem Stand des Wissens in der Annahme bestärken, dass unser »böses« Verhalten aus dem Tierreich, das »gute« hingegen aus der menschlichen Kultur stammt? Ist unser tierisches Erbe tatsächlich nur »bestialisch«? Und ist unser »menschliches« Verhalten tatsächlich immer edel, hilfreich und gut für alle?
Diese Zweifel sind nicht neu. Schon zu Huxleys Zeiten weckten sie den Widerspruch eines Mannes, der zu den schillerndsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts gehörte und dessen philosophische Gedanken Huxley und wohl auch Lorenz und Ghiselin überlegen waren …
• Der Fürst, der Anarchist, der Naturforscher und sein Erbe. Wie wir miteinander kooperieren
Der Fürst, der Anarchist, der Naturforscher und sein Erbe
Wie wir miteinander kooperieren
Wer ein guter Anarchist werden will, der sollte in die Schweiz reisen. Nicht nur der junge Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der Berner Komödiendichter Friedrich Dürrenmatt, der Züricher Graffitisprayer Harald Naegeli oder der österreichische Philosoph Paul Feyerabend, der seine Karriere in Zürich beendete, bekannten sich als Anarchisten. Selbst dem elitären Spross einer russischen Hochadelsfamilie konnte es passieren, im Land der Eidgenossen bekehrt zu werden: »Als ich die Berge nach einer guten Woche Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir ließ, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist.« 1
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin wurde 1842 in Moskau geboren, ein Zeitgenosse des Philosophen Friedrich Nietzsche, des Hirnforschers Santiago Ramón y Cajal und des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Er war ein Teil der Generation nach Charles Darwin und Karl Marx, die das neue Wissen über den Menschen und über die realen gesellschaftlichen Verhältnisse sehr ernst nahm. Auf eigenen Pfaden wollten ihre Vertreter nun näher an die Natur des Menschen herankommen.
Kropotkin schien zu Höherem berufen, schon durch seine Abkunft aus einer der vornehmsten Familien Russlands. Aber sein Lebensweg verlief völlig anders, als sein Vater, ein strenger Großgrundbesitzer, sich erhofft hatte. Wer aus seinen Sprösslingen etwas machen wollte, schickte sie in Russland in das Pagenkorps
von St. Petersburg, die Kaderschmiede der Elite, vergleichbar etwa mit der École Nationale d’Administration (ENA) im heutigen Frankreich. In seiner Autobiografie beschwert sich Kropotkin laut über die rüden Sitten. Aber er absolviert die Militärakademie mit Bravour. Seine neu geweckten Interessen gelten nicht dem überkommenen Geist des Zarismus, sondern der Französischen Revolution, dem englischen Liberalismus und den neuen republikanischen Ideen in Westeuropa. Als Offizier treibt es den jungen Fürsten nach Sibirien. Sein rastloser Geist studiert die Natur der Taiga, die Tiere und die Menschen in den abgeschiedenen Dörfern auf der Suche nach neuen Gedanken und Erkenntnissen. Er beginnt die Bauern »unter einem ganz neuen Licht zu sehen« und genießt das »unabhängige« Leben »mit ein paar Pfund Brot und einigen Unzen Tee im Lederbeutel, einem Kessel und einem Beil am Sattelknauf und unterm Sattel eine Decke, die am
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