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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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zeigt sich zumeist vor allem in ihrem Zusammenhalt gegen äußere Gefahren. Hier, so Kropotkin, findet der wahre »Kampf ums Dasein« statt: in der Auseinandersetzung der Tiergruppen mit ihrer Umwelt. Nicht Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Gewalt sichern das Überleben, sondern Zusammenarbeit und Zusammenhalt.
    Die Theorie, dass es in der Natur insgesamt mehr auf Zusammenhalt ankommt als auf einen Verdrängungskampf, war ein ketzerischer Gedanke. Er widersprach ganz entschieden der vorherrschenden Ideologie des späten 19. Jahrhunderts. Im England der Königin Victoria, dem Frankreich Napoleons III. und im Deutschen Reich Wilhelms I. passte der »Kampf aller gegen alle« nur allzu willkommen in den Zeitgeist. Auf genau dieser
Grundlage beuteten die Fabrikherren ihre Arbeiter aus, mobilisierten die Staaten ihre Soldaten gegen die Nachbarländer, eroberte und plünderte die weiße Herrenrasse ihre Kolonien. Wer anderes behauptete als das natürliche Recht des Stärkeren, machte sich schnell verdächtig.
    Der preußische Jurist Julius Hermann von Kirchmann (1802-1884), weder ein Umstürzler noch ein Sozialist, brachte sich um Schlips und Kragen, als er 1866 in einem Vortrag vor dem Berliner Arbeiter-Verein Ueber den Communismus der Natur referierte. 3 Er bezeichnete es als ein Gesetz der Natur, dass das Streben nach mehr Macht und Besitz den Menschen nicht dauerhaft erfüllt. Umgehend setzte das Obertribunal in Berlin eine Disziplinaruntersuchung an. Es enthob den Vizepräsidenten beim Oberlandesgericht in Ratibor wegen »verwerflicher und unsittlicher Ausführungen« seines Amtes. Der grausame Kampf ums Dasein, wie der preußische Staat ihn sah, schien offensichtlich sittlicher zu sein als der Gedanke an die kooperative Natur des Menschen.
    Auch Kropotkin weitet sein Studium der Kooperation von den Tieren auf die Menschen aus. Dabei ist ihm völlig klar, dass »ein Geschöpf, das so wehrlos ist, wie es der Mensch in seinen Anfängen war, seinen Schutz und seinen Weg zum Fortschritt … in gegenseitigem Beistand gefunden« hat »gleich anderen Tieren«, und nicht »in rücksichtslosem Kampf um persönliche Vorteile, ohne sich um die Interessen der Art zu kümmern«. 4 Doch genau so hatte Huxley den frühen Menschen beschrieben. Hatte er nicht Hobbes’ rein hypothetischen »Naturzustand« mit seinem »Kampf aller gegen alle« viel zu ernst genommen? Wie konnte ein Biologe, der sich mit unseren Vorfahren befasste, allen Ernstes einen solchen Unsinn schreiben wie Huxley, wenn er in seinem Essay von 1888 schrieb: »Abgesehen von den beschränkten und nur zeitweiligen Beziehungen der Familie war der Hobbes’sche Krieg aller gegen alle der normale Zustand zu existieren.« 5

    Für Kropotkin ist dieses Menschenbild fahrlässig, falsch und gefährlich. In seinen Kapiteln über die Entwicklung der gegenseitigen Hilfe in der Menschenwelt zeichnet er den Weg nach von unseren frühesten Vorfahren über heutige Naturvölker zu den Sitten der »Barbaren«, des Mittelalters bis zur Kultur der Gegenwart.
    Mit Darwin nimmt Kropotkin an, dass unser nächster Verwandter der Schimpanse sei und nicht, wie Huxley meint, der Gorilla. Schimpansen aber bilden größere Horden. Sie sind in hohem Maße gesellig. Nicht anders leben die meisten Naturvölker. Sie bilden Clans aus Familien und Großfamilien. Der Anteil des Gemeineigentums, beschreibt Kropotkin, sei größer als der Privatbesitz. Naturvölker leben »primitiv kommunistisch«. Ob bei Buschmännern oder Hottentotten, Australiern und Papuas, Eskimos oder Aleuten - überall diagnostiziert er »Stammessolidarität« und »Gemeinsinn«. Obwohl die Gesetze des Zusammenlebens ungeschrieben sind, werden sie doch als Normen, Sitten und Gebräuche befolgt. Nicht Regierungen, Gesetze und Gerichte nötigen die Menschen zum freundlichen Umgang miteinander, wie bei Hobbes, sondern die Anerkennung durch den jeweils anderen. 6 Der Verlust dieser Anerkennung durch eine schlechte öffentliche Meinung ist die höchstmögliche Strafe für das Fehlverhalten. Ein hübsches Beispiel für die öffentliche Meinung als moralische Instanz ist der Handel beim Eskimovolk der Aleuten. Wer etwas verkaufen will, bestimmt den Preis nicht selbst. Vielmehr einigt er sich mit dem Käufer auf einen neutralen Dritten, der den Preis festsetzt, einen Tarifschlichter. Die Fairness ist damit gewahrt und allen anderen sichtbar demonstriert.
    Das Bild, das Kropotkin von der Kultur der »Wilden« zeichnet, ist liebevoll und

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