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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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freundlich. Aber natürlich kannte auch er die Berichte vieler zeitgenössischer Forschungsreisender und Völkerkundler, die von ausgesetzten Greisen, getöteten Kindern und von Kannibalismus bei den Naturvölkern erzählten. Doch all dies, so Kropotkin, sei eher die Ausnahme als die Regel. Und
selbst ein Volk von Kopfjägern, wie die Dayak in Borneo, verhalte sich jenseits dieses befremdlichen rituellen Brauchs untereinander fürsorglich und sozial.
    Hat Kropotkin Recht, so ist die ursprüngliche Lebensgemeinschaft des Menschen die Horde oder der Clan. Wieder einmal ist Huxley der Gegenspieler. Für Darwins Mitstreiter steht am Anfang der menschlichen Evolution die Kleinfamilie. Und alle anderen Sozialgemeinschaften seien erst viel später entstanden. Für Kropotkin aber steht am Anfang die Großfamilie der Horde. Die Kleinfamilie dagegen sei eine sehr späte Entwicklung des Menschen, genau genommen sei sie sogar nur eine europäische Erfindung der letzten Jahrhunderte.
    Der Mensch, so Kropotkin, sei von Natur aus gesellig und weitgehend friedlich. Mag der »pessimistische Philosoph« auch »triumphierend« Krieg und Unterdrückung zur wahren Menschennatur verklären - »wenn wir die vorgefassten Meinungen der meisten Historiker und ihre ausgesprochene Vorliebe für die dramatischen Momente der Geschichte beiseitelassen«, dann sehen wir, dass das Zusammenleben der Menschen meistens doch irgendwie gelingt. »Die hellen und sonnigen Tage« sind die Regel, »die Stürme und Orkane« die Ausnahme. 7 Auch die sesshaften »Barbaren«, zu denen sich viele »Wilde« entwickelten, zeigen vielfältige Formen der gegenseitigen Hilfe. Sie halten Versammlungen ab, feiern Feste und teilen große Teile ihres Besitzes. Im Verhältnis zur Welt des späten 19. Jahrhunderts in Westeuropa spielt der Privatbesitz kaum eine Rolle. Alles Wesentliche gehört dem Dorf und wird nach einiger Zeit neu verteilt.
    Im Mittelalter garantierten die Zünfte den geregelten Ablauf der gegenseitigen Hilfe. Nicht nur Kaufleute und Handwerker hatten Zünfte, selbst die Bettler schlossen sich zusammen. Mächtige Bünde verhelfen den italienischen Städten zu Reichtum, in Nordeuropa ist es die Hanse. Erst der Aufschwung der Zentralstaaten zerstört diese blühende Infrastruktur.
    Hat Kropotkin Recht, so ist der kommunistische Anteil in der
Natur des Menschen größer als der egoistische. Und kein Egoist zu sein ist demnach eigentlich keine Kunst, sondern das Wesen der Menschennatur. Die Freude am geteilten Leben, am geteilten Geld und am geteilten Erfolg wiegt schwerer als die Missgunst, der Eigensinn und das Triumphgefühl des Egoismus. Mit Kopfschütteln quittiert Kropotkin die politische Situation Ende des 19. Jahrhunderts, die es den Arbeitern in England, Deutschland und Russland verbietet, sich gemeinschaftlich zu organisieren. Ein Verhalten, das noch wenige hundert Jahre zuvor als völlig normal angesehen worden war.
    Was war das bloß für eine schreckliche Ideologie, die den Menschen so unhistorisch und falsch zum Raubtier erklärt? Die ihn unausgesetzt nach Privatbesitz gieren lässt, obschon ihm das kaum dauerhaftes Glück bringt? Die ihn nach Vorteilen streben lässt, die letztlich gar keine sind? Eine Ideologie ist dies, so meint Kropotkin, die es zu überwinden gilt, weil sie auf einem schiefen Menschenbild basiert. Denn in »der Betätigung gegenseitiger Hilfe … finden wir den positiven und unzweifelhaften Ursprung unserer Moralvorstellungen; und wir können behaupten, dass in dem ethischen Fortschritt des Menschen der gegenseitige Beistand - nicht gegenseitiger Kampf - den Hauptanteil gehabt hat. In seiner umfassenden Betätigung auch in unserer Zeit«, so schließt Kropotkin sein Buch, »erblicken wir die beste Bürgschaft für eine noch stolzere Entwicklung des Menschengeschlechts«. 8
    Dieser stolzen Entwicklung des Menschengeschlechts sollte Kropotkin noch zwei Jahrzehnte als scharfer Beobachter beiwohnen. Als die russische Revolution ausbrach, kehrte er nach langer Abwesenheit aus dem Londoner Exil nach St. Petersburg zurück. Eine sechzigtausendköpfige Menge feierte ihn bei seiner Ankunft wie einen Messias. Und die bürgerliche Übergangsregierung bot ihm sofort einen Ministersessel an. Der 85-Jährige lehnte dankend ab. Doch auch unter den Kommunisten fand er keine Heimat. Ein Treffen mit Lenin endete enttäuschend. Die rigide
Diktatur der bolschewistischen Partei war gewiss nicht das, was sich ein kommunistischer Idealist unter

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