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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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der selbstbestimmten und freien Herrschaft des Volkes vorstellte.
    Im Februar 1921 starb der Mann, der Großfürst, Anarchist und Naturforscher in einer Person war, an einer Lungenentzündung. Lenins Regierung würdigte den ihr fremd gewordenen Pionier eines herrschaftsfreien Kommunismus, indem sie die Gefängnistore öffnete. Einige inhaftierte russische Anarchisten erhielten Freigang zum Begräbnis. Der Trauerzug geriet zu einer bis zum Ende der Sowjetunion beispiellosen Demonstration: Zehntausende folgten Kropotkins Sarg, darunter zahlreiche entschiedene Gegner des bolschewistischen Regimes.
     
    Was hatte Kropotkin in unserer Frage geleistet? Hat seine freundliche Betrachtung des Menschen als eines von Natur aus kooperativen Wesens Bestand? Was sagen die Experten der Gegenwart dazu? Kropotkins Kenntnisse über unsere tierischen und menschlichen Vorfahren waren notgedrungen begrenzt gewesen: ein paar ausgegrabene Knochen von Vormenschen, ein paar bedauernswerte Kreaturen von Menschenaffen im Londoner Zoo - auf dieser Grundlage konnte man über die Menschennatur nur spekulieren.
     
    Im selben Jahr freilich, in dem Kropotkin starb, veröffentlichte der Berliner Psychologe Wolfgang Köhler seine Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, die er in der Primatenstation der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa gemacht hatte. Auch eine erste Psychologie des Schimpansen schrieb Köhler im gleichen Jahr, ein Aufsatz von gerade einmal acht Seiten. 9
    Heute dagegen ist die Forschungsliteratur über moralisches oder »moralanaloges« Verhalten von Menschenaffen nahezu unüberschaubar geworden. Und die Einschätzungen der Forscher gehen in manchen Fragen mitunter stark auseinander. Gleichwohl darf man sagen, dass wir unsere nächsten Verwandten und damit wichtige Aspekte unseres tierischen Erbes ziemlich gut
kennen. Sie sind nicht nur »egoistisch«, sondern zugleich kooperativ. Aber woran liegt das eigentlich? Und wie weit reicht die Kooperation? Wenn wir die moralische Natur des Menschen verstehen wollen, dieses seltsam rätselhafte Mischungsverhältnis von Egoismus und Kooperation, müssen wir uns dazu die Anforderungen vorstellen, denen unsere Vorfahren durch ihre Umwelt und in ihrem sozialen Miteinander ausgesetzt waren. Anders gefragt: In welchem Erfahrungsraum entstand unsere Fähigkeit zur Moral?
    Sie entstand ohne Zweifel in einer Welt, in der es für unsere Vorfahren notwendig und sinnvoll war, sich miteinander auszutauschen. Und das Mittel dazu war die Sprache, also Gesten und Laute. Ohne Sprache, so darf man folgern, keine Moral. Doch wie muss man sich diese Verständigung vorstellen, die neben eigensinnigem auch freundliches Verhalten hervorbrachte und förderte?
     
    • Die Evolution der Absicht. Warum wir uns verstehen

Die Evolution der Absicht
    Warum wir uns verstehen
    Man sagt mehr über die Welt, wenn man nicht nur die geradlinige Ausbreitung der Wörter und Sätze benutzt, sondern auch ihre Ablenkbarkeit einkalkuliert.
    Max Bense
     
     
    Ein frostkalter Wintertag im Kölner Zoo kann eine schöne Sache sein; jedenfalls wenn man ihn mit seinem dreijährigen Sohn verbringt, der vor Neugier und Wissensdurst unter seiner dicken Wollmütze nur so übersprudelt. Irgendwann im fahlen Licht des Nachmittags kamen wir am alten Affenhaus vorbei. Das Gebäude ist ein Denkmal, einer russisch-orthodoxen Kirche nachempfunden im historisierenden Stil der vorletzten Jahrhundertwende. Pjotr Kropotkin, wenn er je nach Köln gekommen wäre, hätte noch seine Freude daran haben können. Nun wurde das Haus gerade renoviert und um einen Käfig erweitert für Kapuzineraffen. Was Kapuziner sind, wusste Oskar schon. Heute interessierte er sich viel mehr dafür, wie man eigentlich Käfige baute. Ich erklärte es, so gut es ging, die kalten Hände in den Hosentaschen vergraben. Irgendwann meinte ich, dass man zum Käfigbau auch einen Hammer brauchte.
    »Papa, wie geht ein Hammer?«
    Ich fing an zu erklären, die Hände noch immer in den Hosentaschen. Also, dass ein Hammer einen Stiel hat, meistens aus Holz, und ein Stück Eisen darauf ist und dass man, wenn man mit der einen Hand einen Nagel zwischen Daumen und Zeigefinger nimmt und mit der rechten Hand mit dem Hammer so ausholt, dass …

    Ich sah in Oskars Gesicht und brach ab. Es war klar, dass er nichts von dem, was ich sagte, verstand. Jedenfalls nicht, solange ich die Hände weiter in den Hosentaschen ließ. Auf einmal wurde ich sehr nachdenklich. Unsere

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