Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Kommunikation völlig vorbei. Die Beobachtung einer Sache und ihr Ausdruck in der Sprache standen sehr häufig nicht in einem Entsprechungsverhältnis. Ich wüsste »nicht, worauf ich als Korrelat (Entsprechung) des Wortes ›küssen‹ zeigen sollte«. Wenn zwei Menschen ihren Mund aufeinanderlegen, kann es sich ebenso gut um eine Form der Beatmungshilfe handeln wie um einen Zärtlichkeitsaustausch. Und bei einigen Naturvölkern werden auf diese Weise Kleinkinder ernährt. Verständlich ist das, was ich sehe, nicht allein durch die Beobachtung. Mindestens ebenso wichtig ist, dass ich den Kontext verstehe.
Wittgenstein selbst konnte die Erforschung des Kontextes nicht mehr abschließen. Sie wurde später das Lebenswerk des englischen Sprachphilosophen Herbert Paul Grice (1913-1988). Wer miteinander redet, so Grice, der sagt immer mehr, als aus dem Wortlaut hervorgeht. 2 Denn zu dem, was jemand mit Worten sagt, kommt immer noch eine Menge anderes: eine ganze Reihe mitgedachter und mit eingeplanter Signale. 3
Auf dem Nachhauseweg von der Schule fällt meinem inzwischen 6-jährigen Sohn auf, dass er sein Heft in der Schule vergessen hat. Meine erste Reaktion ist: »Großartig!« Im Alter von sechs Jahren weiß Oskar inzwischen nicht nur, wie ein Hammer funktioniert, sondern auch, dass dieses »großartig« kein Lob ist, sondern eine Kritik. Wir müssen nun umkehren und zurückgehen. Nicht die Bedeutung des Wortes »großartig« gibt dafür
den Ausschlag, sondern seine ironische Verwendung. Und dass es sich dabei um Ironie handelt, wird klar durch den Kontext.
Interessanterweise gilt die Bedeutung des Kontextes nicht nur für den Gebrauch von Worten und Sätzen, sondern auch für Körpersprache und Gesten. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Restaurant, und ein Gast am Nebentisch schmatzt ungebührlich laut beim Essen. Da steht ein anderer Gast auf, um auf die Toilette zu gehen. Er schaut den schmatzenden Gast an, dann schaut er zu Ihnen, macht einen schiefen Mund und hebt die Augenbrauen. Sie nicken ihm lächelnd zu.
In der ganzen Szene ist kein Wort gefallen. Aber es ist klar, was der Gast, der aufgestanden ist, Ihnen sagen will. Mit seinen Blicken und seinem Gesichtsausdruck macht er Ihnen klar: 1. dass auch er das Schmatzen mitbekommen hat. 2. dass es ihn stört. 3. dass er davon ausgeht, dass es Sie auch stört. Und an Ihrem Lächeln erkennt er, dass Sie ihn verstanden haben und dass er mit seiner Einschätzung richtigliegt. Kein einziges dieser Signale ist klar definiert. Ein Blick kann vieles bedeuten, eine hochgezogene Augenbraue auch. Und trotzdem werden sie sich höchstwahrscheinlich verstehen - über den gemeinsamen Erfahrungsraum und den mitgedachten Kontext.
Die Bedeutung der Körpersprache und der Gesten für die menschliche Verständigung kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Auch hier hatte Wittgenstein den richtigen Riecher, als er im Big Typoscript schrieb: »Was wir Bedeutung nennen, muss mit der primitiven Gebärdensprache (Zeigesprache) zusammenhängen.« Viele Wissenschaftler, wie etwa Michael Tomasello (*1950), Kodirektor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, gehen heute davon aus, dass am Anfang der besonderen Sprachentwicklung des Menschen nicht die Lautsprache stand, sondern die Zeichen- und Gebärdensprache. 4
Hat Tomasello Recht, so entwickelten unsere Vorfahren in der Savanne zunächst eine enorm komplexe Sprache aus Grimassen,
Zeigen und Gesten. Vermutlich gingen sie dabei viel weiter als etwa Schimpansen oder Gorillas. Je intelligenter sie wurden, umso komplizierter wurden die mitgedachten Kontexte. Ein Schimpanse, der auf eine Wasserstelle zeigt, signalisiert damit das Vorkommen von Wasser. Ein menschlicher Vorfahre aber könnte damit bereits viel mehr gemeint haben. Zum Beispiel: »Ich bin durstig!« Oder: »Ich brauche Wasser, könnt ihr mir vielleicht welches holen?«
Nach Tomasello bildet das Gebärdenspiel die psychologische Plattform, auf der unsere heutigen 6000 Sprachen entstanden. Nicht die Lautsprache brachte danach die Bedeutungsfülle unseres Denkens hervor, sondern die Bedeutungsfülle unseres Denkens bediente sich der Lautsprache als zusätzlichem Mittel. Erst wurde auf etwas gezeigt, und dann wurden später die Laute dazu festgelegt. Dass wir aus den etwa fünfzig Klängen, die wir mit Gaumen und Zunge formen können, einen Wortschatz von über 100 000 Wörtern bilden können, ist natürlich eine großartige Sache, die das
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