Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Menschensprache ist doch eine merkwürdige Sache! Glaubt man den Verhaltensforschern, den Anthropologen, den Kognitionsexperten und Sprachwissenschaftlern, so ist sie die vielfältigste, ausdrucksstärkste, präziseste und beste Sprache im Tierreich. - Aber wieso taugt sie überhaupt nicht dafür, einem dreijährigen Kind allein mit Worten zu erklären, wie man mit einem Hammer einen Nagel in die Wand schlägt?
Unsere Sprache ist einzigartig in der Tierwelt, aber für alles ist sie nicht zu gebrauchen. Manchmal sagt ein Blick »mehr als tausend Worte«. Man kann »bedeutungsschwer« schauen und »vielsagende« Gesten machen. Zudem ist das menschliche Leben ganz offensichtlich voll mit Situationen, in denen man besser den Mund hält. Der souveräne Gebrauch der Sprache schließt die Kunst des Schweigens mit ein.
Woran liegt das? Warum ist es den Menschen in ihrer Kultur und Geschichte nicht gelungen, für alles Worte zu finden? Warum ist unsere Sprache nicht ganz präzise und exakt? Warum gibt es überall Grauzonen und Grautöne?
Der berühmteste aller Philosophen, der sich mit dieser Frage beschäftigte, war der Österreicher Ludwig Wittgenstein (1889-1951). Als gelernten Flugzeugingenieur störte es ihn gewaltig, dass die menschliche Sprache kein Präzisionsinstrument war. Viele Jahre mühte er sich mit dem Versuch ab, das Unbestimmte der Sprache zu säubern und ihre Mehrdeutigkeiten zu beseitigen. Als er das Unterfangen schließlich aufgab, setzten einige seiner Wiener Freunde und Schüler den Versuch einer »Präzisionssprache« fort. Vierzehn Jahre lang trafen sie sich einmal die Woche zu Arbeit und Austausch. Das Projekt des »Wiener Kreises« war kühn. Nicht nur die Sprache sollte entrümpelt, sondern alle Philosophie sollte logisch, klar und verständlich werden. 1
Das Ziel war eine exakte Wissenschaft vom Leben und von der Wahrheit. Seit den Tagen des Barockphilosophen René Descartes (1596-1650) hatte es wohl kein ehrgeizigeres Unterfangen in der Philosophie gegeben. Alle Probleme sollten gelöst oder als Scheinprobleme enttarnt werden. Als Moritz Schlick, der Leiter des Kreises, 1936 von einem seiner ehemaligen Studenten ermordet wurde, löste sich der Kreis auf. Gescheitert aber waren die Präzisionshandwerker der Philosophie schon lange zuvor.
Warum war die ersehnte Präzisionssprache so unmöglich? Ein erster Grund dafür könnte sein, dass man eine solche exakte Sprache im Alltag gar nicht braucht. Sie wäre, wenn überhaupt, nur etwas für die Wissenschaft. Aber auch hier gibt es bis heute nirgendwo eine echte Präzisionssprache. Ginge es nach den Sprachingenieuren des Wiener Kreises, so sollte sich die Sprache nach den Beobachtungen richten, die wir in der Realität machen. Aber die Realität, so scheint es, ist nicht immer eindeutig. Einen mathematischen Satz kann ich definieren und ein Protein und einen Elefanten-Rüsselfisch wissenschaftlich exakt benennen. Aber ist das, was ich bei meinen Stiefkindern wahrzunehmen glaube, tatsächlich Liebe? Wie messe ich hier die Richtigkeit meiner Beobachtung? Und wie eindeutig und zuverlässig ist mein Beobachtungsobjekt, meine Stiefkinder? Und was passiert eigentlich mit der Exaktheit, wenn ich meine Sätze in eine Fremdsprache übersetze? Oder wenn ich umgekehrt ein fremdes Wort übersetzen will? Warum gibt es für »Bewusstsein« im Englischen zwei Worte (consciousness und awareness)? Und warum kein deutsches Wort für das englische mind?
Die Antwort auf all diese Fragen ist überraschend schlicht: weil Sprache kein Instrument der Wahrheit ist! Zu diesem Zweck wurde sie nicht erfunden. Die Frage nach der Wahrheit war in der Evolution des Menschen und seiner Kultur nicht das wichtigste Problem. Wer als Primat gesellig in der Savanne lebt, muss sich verstehen. Und zwar in der doppelten Bedeutung des Wortes »verstehen«. Aber er gerät äußerst selten in die Verlegenheit,
exakte Bestimmungen zu treffen oder absolute Wahrheiten präzise zu beschreiben. Für diese Aufgabe wurde er von der Natur und seiner Umwelt kaum ausgerüstet.
Diese Erkenntnis blieb auch Wittgenstein nicht fern. Zur gleichen Zeit, als sich der Wiener Kreis auflöste, arbeitete er in Cambridge an einem nie veröffentlichten Werk, später berühmt als The Big Typoscript. Von dem Gedanken an eine Präzisionssprache wollte er nichts mehr wissen. Im Gegenteil: Ihn interessierte nun, warum die Idee einer exakten Sprache scheitern musste. Offensichtlich ging sie am Wesen der menschlichen
Weitere Kostenlose Bücher