Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
Vom Netzwerk:
Denken weiterhin enorm beflügelte. Doch wir sollten das menschliche Gebärdenspiel gleichwohl nicht unterschätzen. Noch heute ist es ungleich komplexer und komplizierter als das von Affen. Wer einen Artisten beim Luftgitarren-Wettbewerb auf der Bühne verfolgt, kann leicht sehen: Menschen äffen viel besser nach als Affen!
    Die besondere Pointe des Gebärdenspiels ist eine Unterstellung: dass eine Mimik oder eine Geste nicht zufällig sind, sondern absichtlich gemacht werden. Sprache verstehen bedeutet immer, eine Intention zu verstehen. Ob es sich um eine hochgezogene Augenbraue handelt, einen ausgestreckten Zeigefinger, ein Lachen oder einen Satz - stets kommt es auf die Frage an: Welche Absicht steckt dahinter?
    Der möglicherweise größte Unterschied bei den Absichten von Menschenaffen und Menschen liegt im Ausmaß von Hilfestellungen. Wenn ein Schimpansenkind durstig ist, wird ihm eine unbeteiligte Schimpansin vermutlich nicht den Weg zur Wasserstelle
zeigen. Mit Tomasello gesagt: »Schimpansen helfen anderen nicht, indem sie Hinweise auf etwas geben, was jemand wissen möchte. Die Schimpansin wird es dem Kind nicht sagen, weil es einfach nicht zu ihren Kommunikationsmotiven gehört, andere auf hilfreiche Weise über etwas zu informieren. Menschliche Kommunikationsmotive sind im Gegensatz dazu grundlegend kooperativ angelegt.« 5
    Wer, wie der Mensch, das Bedürfnis hat, eine Fülle von Absichten mitzuteilen, kann dies nicht, ohne zugleich kooperativ zu sein. Um meine eigenen Absichten zu erreichen, muss ich die Absichten der anderen kennen und verstehen. So etwa kann es mitunter völlig ausreichen, einen Wunsch zu äußern, um andere dazu zu bringen, etwas für mich zu tun. Darüber hinaus können Menschen etwas so Grandioses erzeugen wie ein bewusstes »Wir-Gefühl«. Menschen formulieren gemeinsame Absichten, gemeinsame Ziele, gemeinsame Überzeugungen und Weltanschauungen.
    Die Erkenntnisse der Sprachanthropologen könnten einen Pjotr Kropotkin posthum frohlocken lassen - ein kooperativeres Tier als der Mensch ist kaum denkbar. Schon indem wir uns so komplex verständigen, sind wir gezwungen, uns zumeist auch weitgehend zu verstehen, wobei Ausnahmen diese Regel nur bestätigen.
    Viele Dinge in unserem Leben erhalten ihren Wert ausschließlich durch sprachliche Verabredungen. Was wäre unser Papiergeld wert, wenn man sich nicht über seine symbolische Bedeutung verständigt hätte? Und was ist eine Ehe anderes als eine sprachliche Verabredung? Manche Gemeinschaften, die offiziell eine »Familie« bilden, verhalten sich nicht so, wie man es von einer Familie erwartet. Andere, die juristisch keine Familie sind, erfüllen eine Familienerwartung. Wir fühlen uns Menschen verbunden, die die gleichen Werte und die gleiche politische Überzeugung haben wie wir. Obwohl wir sie möglicherweise überhaupt nicht leiden könnten, wenn wir sie besser kennen würden.
Bei all diesen Konventionen und Institutionen tun wir so, als ob es diese Dinge wirklich gäbe. Geld, Ehe, Familie oder Weltanschauung - sie bilden rein sprachlich erzeugte Systeme mit eigenen, zum Teil höchst verbindlichen Spielregeln.
    Durch die Sprache spielen Menschen miteinander ein hochkompliziertes soziales Schach. Und Kommunikation, Kooperation und Moral sind hiermit auf untrennbare Art und Weise miteinander verbunden. Selbst der größte Egomane kann sich dem nicht entziehen. Wie auch immer er sich in seinen Lebenssituationen entscheidet, er nimmt notgedrungen an diesem Spiel teil. Mit dem Philosophen Paul Watzlawick gesagt: »Man kann nicht nicht kommunizieren.«
    In der Entwicklung des Menschen dürfte die Ausbildung einer komplexen Sprache eng verbunden sein mit den Anfordernissen des Sozialverhaltens in der Gruppe oder Horde. Moral und Sprache sind auf diese Weise kaum trennbar miteinander verbunden. Je abstrakter die Sprache werden konnte, umso abstrakter konnte auch die Moral werden. Es konnten Regeln aufgestellt werden, Sitten etabliert und Normen formuliert. Bereits vor vierzig Jahren vermutete der US-amerikanische Paläo-Neurologe Harry Jerison von der University of California in Los Angeles, dass genau dieser Zusammenhang dem Menschen zu seiner beispiellosen Intelligenz verholfen haben könnte. 6 Das enorme Wachstum des menschlichen Gehirns, so Jerison, sei mit keinem anderen Umstand so eng verknüpft wie mit den Anforderungen des Sozialverhaltens und der damit einhergehenden Explosion sprachlicher Differenzierungen.
    Aus primitiven

Weitere Kostenlose Bücher