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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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US-amerikanische Verhältnisse »links«), bewerteten »Fairness« und »Fürsorge« am höchsten. »Loyalität«, »Respekt« und »Stolz« schnitten schlechter ab. Befragte, die sich selbst als »konservativ« einschätzen, bewerten zwar die Fürsorge hoch, nicht aber die Fairness. Sie landete auf dem letzten Platz.
    Geht es nach Haidt, so passen wir unsere Werte unserer Weltanschauung an und nicht umgekehrt. Anders ausgedrückt: Vernünftige Argumente dafür, ob etwas gut, richtig, wertvoll oder
wertlos, akzeptabel oder inakzeptabel ist, sind stets nachgeschoben. Für einen schlagenden Beweis konstruierte Haidt eine ganze Reihe drastischer Beispiele und fragte Tausende von Menschen in den USA und in Brasilien, was sie davon hielten: Wäre es in Ordnung, wenn zwei Geschwister miteinander schlafen? Gesetzt den Fall, sie verhüten sorgfältig und finden es beide aufregend und wunderbar? Finden Sie es unbedenklich, wenn jemand seinen verstorbenen Hund isst? Haben Sie etwas dagegen, wenn einer seine Toilette mit der Nationalflagge putzt? Würde es Sie verstören, wenn jemand ein totes Huhn, bevor er es isst, zum Onanieren gebraucht? 10
    Die Pointe all dieser Beispiele ist offensichtlich. Sie sind so konstruiert, dass niemandem ein Schaden entsteht. Keiner wird unfair behandelt, und es gibt keine Opfer. Und trotzdem, so vermute ich, wird Ihnen bei den meisten dieser Beispiele mindestens unbehaglich. Die Toilettenreinigung mit der Nationalflagge, die in Deutschland nicht die pathetische Symbolik hat wie in den USA, würden Sie möglicherweise noch als Marotte akzeptieren. Den Inzest aber lehnen Sie vermutlich ab, obwohl die vernünftigen Argumente dagegen - das Risiko einer Schwangerschaft, ein großer seelischer Schaden - hier nicht greifen. Wenn etwas in Ihnen gegen all diese Unsitten rebelliert, ist es nicht Ihr Sinn für Fairness. Und es ist wohl auch nicht das Mitgefühl mit toten Hunden und toten Hühnern.
    Aber was entrüstet oder pikiert Sie dann? Vermutlich ist es bei den genannten Beispielen nicht unbedingt das Gleiche. Unser Unbehagen gegenüber Inzest ist biologisch vermutlich sehr alt, er findet sich auch bei vielen anderen höheren Wirbeltieren. Unser Unbehagen daran, dass jemand seinen eigenen Hund isst, mag daran liegen, dass wir in unseren Haustieren so etwas sehen wie entfernte Angehörige. Wen man liebt oder geliebt hat, den verspeist man nicht. Und den Mann, der sich an einem toten Huhn vergeht, halten wir vermutlich für psychisch gestört.
    Gleichwohl gibt es bei all den Fällen etwas Gemeinsames.
Wir sind moralisch verstört oder entrüstet, ohne dass jemand zu Schaden gekommen ist. In seinen Schriften über das »epische Theater« erklärt der Schriftsteller Bertolt Brecht einen wichtigen Unterschied zwischen einem Sprechen »im Namen der Moral« oder »im Namen der Geschädigten«: »Das sind wirklich zweierlei Dinge. … Die Menschen sind für solche Moralisten für die Moral da, nicht die Moral für die Menschen.« Für Brecht ist das Sprechen »im Namen der Moral« falsch. Allerdings bezieht er es einzig und allein auf den Missbrauch der Moral im politischen Kontext. In unserem Alltag aber, so scheint es, gibt es auch dann einen wichtigen »gefühlten Grund«, eine Handlung abzulehnen, wenn es keine Geschädigten oder Opfer gibt.
    Die gefühlten Gründe nennt Haidt soziale Intuitionen. Fast immer richten wir uns nach unserer Intuition und entscheiden nach Gefühl. (Nur Philosophieprofessoren, so Haidt, machen dabei vielleicht eine kleine Ausnahme.) Das Schlechte an der Macht der Intuition ist, dass wir weit weniger vernünftig und selbstbestimmt sind, als wir gemeinhin glauben. Das Gute ist, dass auch unsere Intuitionen lernfähig sind: durch Bestätigungen oder durch Enttäuschungen und vor allem durch die Anregungen und Meinungen anderer. Unsere Gefühle lassen sich demnach verschieben und passen sich mitunter den Umständen an.
    Haidts Erkenntnisse knüpfen an Hume ebenso an wie an de Waal. Unsere Moral sei keine alleinige Errungenschaft der Zivilisation, sondern ein Ensemble von unterschiedlich alten und sehr nützlichen instinktiven Handlungen und Haltungen. Vernunft alleine gebiert dagegen keine Moral. Denn ohne soziale Gefühle wie Liebe, Zuneigung, Respekt, Mitleid, Furcht, Unbehagen, Ablehnung, Ekel, Scham und so weiter weiß auch unsere Vernunft nicht, was Gut und Böse ist.
    So weit, so unwidersprochen. Doch wie weit reicht unsere Intuition? Hatte Hume tatsächlich Recht, als er

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