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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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meinte, dass bei unseren moralischen Handlungen immer und allein das stärkste Gefühl den Ausschlag gibt? Und stimmt es, dass, wie Haidt, viele
Hirnforscher und manche Psychologen glauben, der Verstand nur eine Werbeabteilung ist, die die Entscheidungen des Gefühls im Nachhinein rechtfertigt?
    Der vermutlich wichtigste Unterschied zwischen Menschenaffen und Menschen lässt sich leicht benennen: Es ist die Fähigkeit des Menschen, Normen aufzustellen. Affen unterscheiden nach akzeptiert und nicht-akzeptiert. Sie unterscheiden aber ganz offensichtlich nicht nach akzeptier bar und nicht akzeptier bar. Kurz gesagt: Sie erheben ihr Urteil nicht in den Rang einer Norm, einer Sitte oder einer Vorschrift. Soweit wir wissen, leiten Affen aus ihrem konkreten Verhalten keine abstrakte Verhaltensanweisung ab. Sie legen also nicht gegenüber anderen fest, wie man sich allgemein zu verhalten habe.
    Die Fähigkeit zu allgemeinen Normen, Regeln und Handlungsmaximen ist eine beeindruckende menschliche Leistung. Aus etwas Individuellem wird etwas Generelles. Doch wo kommt sie her? Wenn unser Gefühl, unsere soziale Intuition unser Handeln leitet, wozu bedarf es dann einer vernünftigen Maxime? Warum prägte die Evolution in unseren Köpfen die Fähigkeit aus, abstrakte Wertmaßstäbe zu formulieren und uns selbst und andere daran zu messen? Mit anderen Worten: Wie kam in einem Imperium des Wollens das Sollen in die Welt?
    Bei der Erklärung dieser Frage sind sich viele Biologen, Psychologen und Philosophen erstaunlich einig. Um das soziale Schach in einer Primatengesellschaft gut zu spielen, muss ich lernen, mich in andere hineinzuversetzen. Nur so kann ich ahnen, was sie vorhaben. Auf diese Weise dürfte es unseren Vorfahren möglich gewesen sein, zu der Regel zu kommen: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.« Aus der Fähigkeit zum Mitgefühl und dem elementaren Sinn für Unfairness entwickelte sich eine erst unausgesprochene und später ausgesprochene Regel. Wenn man den Schutz vor unfairer Behandlung weiter ausspinnt, so kommt man zudem auf ein Gefühl für Anstand, für Scham und für Tabus - Gefühle,
die für das Zusammenleben in der Gemeinschaft unverzichtbar sind.
    In dieser Sicht stimmen viele überein. Am Anfang unserer Moralentwicklung standen soziale Intuitionen. Die Normen folgten später nach. Doch sind die Probleme damit gelöst? Geht es nach Psychologen wie Hauser oder Haidt, dann ist alles ganz einfach. Die alten Intuitionen sagen uns, was wir tun sollen. Und die neuen Handlungsmaximen und Normen wedeln dazu mit dem Schwanz. Aber ist das wirklich so schlicht? Eine Frage zumindest bleibt damit völlig unbeantwortet: Wenn in uns allen die gleichen sozialen Intuitionen unserer Vorfahren regieren, warum handeln Menschen dann individuell häufig verschieden? Warum haben wir nicht alle die gleichen moralischen Reflexe? Warum fühlen sich manche Menschen in unserem Umfeld für fast alles verantwortlich und andere für fast nichts? Warum hangelt sich mancher mit Lügen, Tricksen und Ausreden durch die Welt? Und ein anderer verzweifelt bereits an einer kleinen Notlüge?
    Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick auf verschiedene Kulturen. Wenn alle Menschen einen Sinn für Unfairness haben, warum wurden dann in der abendländischen Kultur die Frauen jahrtausendelang unterdrückt? Und in vielen islamisch geprägten Ländern werden sie es noch heute. Warum war es den Griechen und Römern unanständiger, einen Hund zu essen, als sich Sklaven zu halten? Und wo blieb beim Wachpersonal in den Konzentrationslagern der intuitive Sinn für Anstand und Scham?
    Ein paar sehr krasse Fälle von moralischer Asozialität lassen sich heute mithilfe der Hirnforschung lösen. Menschen, die keinerlei moralische Intuition haben, weisen häufig Schädigungen im Stirnhirn auf, vor allem in der ventromedialen Region des Schläfenlappens, wie der berühmte Eisenbahnarbeiter Phineas Gage. 11 Auch andere Verletzungen und Beeinträchtigungen des Gehirns können sich auf unser Verhalten schädlich auswirken. Besonders auffällig sind Anomalitäten in der Funktion der Amygdala, einer Emotionszentrale, die für Gefühle zuständig ist
wie Sympathie oder Antipathie, Zutrauen und Furcht. Oder es handelt sich um Funktionsstörungen in den Spitzen der Temporallappen und in einigen anderen Regionen mehr.
    Doch nur die wenigsten moralischen Verhaltensabweichungen im Alltag weisen tatsächlich auf eine Schädigung im Gehirn

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