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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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sofortige innere Verpflichtung zur schnellen Hilfe. Vernunftbegabte Menschen sind nicht die Vollzugsbeamten ihrer Intuitionen, sondern auch ihrer Selbstachtung. Und sie hören nicht nur auf ihren Willen, sondern sie sind auch in der Lage, diesen Willen zu bewerten. Ist das, was ich gerade will, wirklich gut für mich? Ist es gut für andere? Ist es tatsächlich moralisch richtig? Die Fähigkeit, den eigenen Willen zu bewerten, nennt man autonome Vernunft. Für Immanuel Kant war diese Leistung so großartig, dass er sie zum alles entscheidenden Merkmal der Spezies Mensch erhob. Wir folgen nicht immer und unbedingt den Einflüsterungen unseres Willens. Wir müssen diesen Willen vor uns selbst (und einem imaginären Weltgericht, das uns dabei zuschaut) rechtfertigen.
    Der Unterschied zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Ansprüchen unseres moralischen Urteils lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, Sie lebten in einer Diktatur. Um einen unliebsamen Menschen loszuwerden, braucht das Gericht einen Zeugen. Man fordert Sie auf, einen unschuldigen, aufrechten und sympathischen Menschen völlig zu Unrecht eines Verbrechens zu beschuldigen, um ihn hinzurichten. Wenn Sie es tun, geschieht Ihnen nichts. Weigern Sie sich hingegen, so wird man Sie an seiner statt ermorden.

    Was würden Sie tun? Bereits die Tatsache, dass Sie ins Zögern geraten, ist bemerkenswert. Ihr vielleicht stärkstes Interesse, Ihr Überlebenstrieb, gerät in Konflikt mit Ihrer Moralität. Eine falsche Aussage mit einem schrecklichen Ausgang für einen Unschuldigen ist nicht zu rechtfertigen. Selbst wenn die meisten Menschen vermutlich als falsche Zeugen auftreten werden, so gibt es doch den einen oder anderen, der dies nicht tut. Und der, der als Zeuge auftritt, hat sehr wahrscheinlich ein Leben lang mit seinen moralischen Skrupeln zu kämpfen.
    Sich die Frage stellen zu können, ob das, was man tut, auch gerechtfertigt ist, zeigt unserer sozialen Intuition mitunter eine Grenze auf. Ohne Zweifel: In unserem täglichen Leben folgen wir meistens unseren schnellen moralischen Eingebungen. Wir urteilen viel schneller nach Sympathie und Antipathie als nach moralischen Maximen. Wir lügen für einen Freund, mogeln für unsere Kinder, verzeihen netten Menschen leichter als unfreundlichen. Für unsere großen moralischen Entscheidungen aber brauchen wir gute Gründe. Ist es gerechtfertigt, meine Familie zu verlassen, weil ich mich in jemand anderen verliebt habe? Ist es richtig, den Kontakt zu meinen Eltern abzubrechen? Kann ich es vor mir selbst verantworten, das unlautere Verhalten meines Chefs zu decken?
    In unserem Gehirn spielen Irrationalität und Rationalität kaum unterscheidbar zusammen. Beim Ultimatumspiel überkreuzt sich unsere Gier auf das Geld mit dem Gefühl für Fairness gegenüber dem anderen, unser Egoismus mit unserem Sympathiebedürfnis. Und wer in diesem wilden Zusammenspiel die Entscheidungsgewalt trägt, ist schwer zu bestimmen. Schon unsere Intuitionen können sich widersprechen. Sie können auf den Vorteil schielen oder auch auf den Lohn, sich nett zu fühlen. Und auch unsere Vernunft muss sich mit sich selbst nicht einig sein und zu einer klaren Entscheidung kommen.
    Humes »Kampfmodell«, wonach unsere Gefühle unseren Verstand unterwerfen, ist viel zu schlicht. Bereits unsere Gefühle
tragen einen Bürgerkrieg untereinander aus, ebenso wie unsere vernünftigen Argumente. Mit der US-amerikanischen Philosophin Christine Korsgaard (*1952) von der Harvard University gesagt: »Dem Kampfmodell zufolge werden Vernunft und Gefühl als zwei Seelenkräfte betrachtet, von denen eine ein Handeln auslöst. Dies verschafft uns keine plausible Erklärung für das Zustandekommen eines Handelns. … Das Handeln darf nicht nur von irgendeiner Kraft in der Person, sondern muss von der ganzen Person ausgehen. Um also zu erklären, was ein Handeln ist, brauchen wir eine Vorstellung von der gesamten Person als handelndem Subjekt.« 14
    Ob wir nach Gründen entscheiden oder nicht doch nach der Stärke des damit verbundenen Gefühls, ist eine Frage, die wir nie genau beantworten können. Der Grund dafür ist klar: Unser Bewusstsein selbst unterscheidet gar nicht sauber zwischen Gefühlen und Gedanken. Gefühle können uns nachdenklich stimmen. Und Gedanken fühlen sich gut an oder schlecht. Was Philosophen und Psychologen mit dem Skalpell der Sprache auseinanderschneiden, ist in uns und vor uns selbst fast immer

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