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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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hin. Der Taxifahrer, der mir in einer fremden Stadt auf freundliche Nachfrage nicht hilft, eine Straße zu finden, muss keinen Hirnschaden haben. Und wer trotz eines Rauchverbots in der Bahn eine Zigarette anzündet, benötigt zur Erforschung seines Fehlverhaltens keinen Hirnscanner. Einem aufgebrachten Fußballspieler reicht zur Tätlichkeit gegenüber einem anderen Spieler ein hoher Ausstoß an Adrenalin. Und selbst das Wachpersonal in den Konzentrationslagern dürfte nicht durchgängig als hirngeschädigt entlastet sein.
    Der weitaus größere Teil des moralischen Fehlverhaltens hat nichts mit medizinischen Schäden zu tun, sondern mit unseren Urteilen. Ich beschließe, dass das Rauchverbot im Zug für mich nicht gelten soll, weil ich es partout nicht einsehe. Gesundheitliche Schädigung der anderen hin oder her - mein Freiheitsrecht ist mir wichtiger. Ein anderes Mal setze ich mich über eine Norm hinweg, weil andere es auch tun. Wer spielt schon als Einziger richtig, wenn die anderen falschspielen? In diesem Fall komme ich mir wie ein Idiot vor.
    Moralische Urteile werden dann wichtig, wenn unsere Intuition allein nicht ausreicht. Komplizierte soziale Situationen lassen sich nicht einfach im Vertrauen auf das richtige Gefühl lösen, selbst wenn es dabei immer eine Rolle spielt. In dem schönen Film »Brügge sehen … und sterben?« von Martin McDonagh wird der Auftragskiller Ken dazu gezwungen, seinen Kumpel Ray zu töten. Unbemerkt schleicht sich Ken, die Waffe mit Schalldämpfer in der Hand, im Königin-Astrid-Park an sein Opfer heran. Gerade in dem Moment, als er abdrücken will, sieht er, dass der völlig verzweifelte Ray sich eine Waffe an den Kopf hält, um sich zu töten. Ken schreckt zurück. Er wäre in der Lage
gewesen, einen guten Kumpel zu töten. Aber nicht einen weinenden Menschen, der dabei ist, Selbstmord zu begehen.
    Die Szene - wie übrigens der ganze Film - ist ein zynisches Lehrstück über die menschliche Moral. Siegen beim Entschluss, dem Befehl des Auftraggebers zu folgen, Killerehre und Kalkül über das Mitgefühl, so siegt andererseits das Mitleid und der Reflex, einem Selbstmordkandidaten zu helfen, über die Killerehre. Die Strafe folgt auf dem Fuß. Die soziale Intuition, dem Verzweifelten zu helfen, führt Ken und Ray am Ende beide in den Untergang.
    Auch der Neuropsychologe Joshua D. Greene von der Harvard University liebt drastische Beispiele. Schon in seinem Text mit dem originellen Titel: »Die schreckliche, fürchterliche, sehr böse Wahrheit über die Moral und was wir damit anfangen sollten« 12 hatte er sich damit beschäftigt, wie unsere vorzeitlichen sozialen Intuitionen unserer Vernunft ständig im Weg stehen. Anders als Jonathan Haidt sieht Greene keinen emotionalen Hund, der mit dem rationalen Schwanz wedelt, sondern er sieht zwei Hunde, die sich ankläffen. Im Jahr 2004 befragte Greene seine Studenten, wie sie sich in der folgenden Situation entscheiden würden: Stellt euch vor, es ist Krieg. Während draußen die Soldaten alle Menschen auf der Straße töten, versteckt ihr euch in einem Keller. Da fängt neben euch ein Baby laut an zu schreien. Wenn nichts geschieht, werden die Soldaten euch in Sekundenschnelle aufgespürt haben. Würdet ihr das Baby schnell ersticken, um euer Leben und das Leben der anderen zu retten? 13
    Die Gefühle und die Vernunft der Studenten gerieten in ein heilloses Durcheinander. Die uralten sozialen Intuitionen schrien »Nein!« und die neuere Vernunft »Ja!«. Kann man Greenes Versuch trauen, so sahen die Hirnforscher auf ihren Computerbildschirmen, wie sich verschiedene Hirnareale gleichsam bekämpften.
    Greenes Lektion hat drei klare Pointen. Die erste richtet sich gegen Huxley: Unsere Gefühle sind nicht böser als unsere Vernunft!
Tatsächlich ist es oft kaum zu sagen, wer von uns für das »Gute« steht - unsere Intuitionen oder unsere Überlegungen. Die zweite Pointe lautet: Unsere vernünftigen Urteile sind niemals frei von Gefühlen, aber sie sind auch nicht immer nur deren Erfüllungsgehilfen. An diesem Punkt irrt Hume. Und drittens: Was bei uns am Ende den Ausschlag gibt, unsere Intuition oder unsere Vernunft - das ist von Mensch zu Mensch sehr verschieden!
    Hat Greene Recht, so neigen die Anwälte der sozialen Intuitionen heute gerne zu Übertreibungen. Wenn vor uns in einem See ein Ertrinkender um Hilfe ruft, so dürfte es für die meisten Menschen völlig gleich sein, wie stark ihr Mitleid ist. Fast jeder von uns spürt eine

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