Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
David Hume als der bedeutendste britische Philosoph des 18. Jahrhunderts. Und er ist der Lieblingsphilosoph vieler Naturwissenschaftler, insbesondere vieler Hirnforscher. Was ihn für heutige Biologen attraktiv macht, ist leicht zu benennen. Anders als viele andere Philosophen bezog Hume die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit mit ein. Er ließ nur gelten, was sich zweifelsfrei beobachten ließ. Und er misstraute allen Annahmen über die Natur des Menschen, die sich nicht überprüfen ließen. Auf diese Weise kam er zu zwei spektakulären Schlussfolgerungen. Die erste ist, dass nicht der Verstand oder die Vernunft den Menschen regieren, sondern seine Gefühle. Und die zweite: Wenn unsere Gefühle den Ton angeben und nicht unsere Überlegungen, so gibt es auch keinen freien Willen. Die Affekte sind die Herren und die Vernunft ihre Sklavin. Moderner
ausgedrückt heißt dies: Wie auch immer ich mich in einer moralischen Situation entscheide, stets entscheide ich danach, welcher Affekt in mir am stärksten ist. Das stärkste Gefühl trägt den Sieg davon. Und der Verstand ist nichts als der Pressesprecher des Gehirns, der wortreich rechtfertigt, was unser Kanzler, das Gefühl, längst entschieden hat.
Humes Botschaft ist unmissverständlich und klar: Unsere moralischen Entscheidungen sind nicht überlegt, sondern sie werden intuitiv gefällt. Ein unbewusster Moralsinn (»moral sense«) leitet uns durch die Welt und trennt das Angenehme vom Unangenehmen, das Nützliche vom Unnützen. Der Begriff war unter den britischen Philosophen seiner Zeit sehr in Mode. Die Kollegen Francis Hutcheson (1694-1746) und später Adam Smith (1723-1790) sahen die Grundlage aller ethischen Entscheidungen in einem angeborenen und instinktiven Sinn für Moral. 7
Die Idee, dass unsere Moral intuitiv ist und unserer Vernunft damit weitgehend entzogen, ist gegenwärtig beliebter, als sie es je war. Zweihundert Jahre lang führte sie eher ein bescheidenes Schattendasein in der Philosophie. Heute dagegen ist sie gleichsam die Modephilosophie unserer Zeit. Eine Gesellschaft, die ihre Gefühle nicht mehr versteckt, sondern in jedem Satz thematisiert, die alles »liebt« oder »hasst« - eine Angewohnheit, einen Frühstückssaft, eine Fernsehserie -, glaubt allzu gerne, dass es im Leben vor allem auf die richtigen Gefühle ankommt. Von »Bauchgefühlen« ist in unserer Umgangssprache die Rede und von »gefühlten Wahrheiten«. Sie sind die Grundlage ungezählter Lebens- und Glücksratgeber. Emotionale Intelligenz ist das Schlüsselwort der Sozial- und der Wirtschaftspsychologen. »Bauchentscheidungen« nennt der Psychologe Gerd Gigerenzer sein überaus erfolgreiches Sachbuch. Mit vielen Experimenten führt der US-amerikanische Psychologe Marc Hauser von der Harvard University vor, wie wir uns in moralischen Konfliktsituationen nur auf unser Gefühl verlassen. Und zahlreiche Hirnforscher versuchen uns am Computerbildschirm zu demonstrieren,
dass Hume völlig Recht hatte: Der dunkle Impuls unseres Willens gehe unseren hellen und bewussten Überlegungen zeitlich voraus. 8
Humes überzeugendster Anwalt aber ist ein charmanter junger US-Amerikaner. Im Jahr 2001 veröffentlichte Jonathan Haidt, Professor für Psychologie an der Virginia University, einen spektakulären Aufsatz in einer angesehenen psychologischen Fachzeitschrift: »Der emotionale Hund und sein rationaler Schwanz«. 9 Wie der schottische Philosoph 250 Jahre zuvor, so meint auch Haidt, dass unsere Gefühle unserem Verstand vorausgehen. Nicht der Verstand wedele beim moralischen Urteil mit dem Gefühl, sondern das Gefühl wedele mit dem Verstand.
Haidts These ist provozierend. Hat er Recht, so haben wir für unsere moralischen Überzeugungen, unsere Haltungen und Weltanschauungen keine Gründe. Sondern die Lage wäre genau umgekehrt. Weil wir bestimmte gefühlte Überzeugungen, Haltungen und Weltanschauungen haben, suchen wir uns die dazu passenden vernünftigen Argumente. Abtreibungsgegner seien zumeist nicht deshalb gegen Abtreibung, weil vernünftige Argumente sie überzeugen. Sondern sie suchen sich mehr oder weniger vernünftige Argumente, weil sie gegen Abtreibung sind.
Um seine These zu überprüfen, untersuchte Haidt die Werte von US-amerikanischen Wählern. Er erstellte eine Liste und forderte die Befragten auf, eine Hierarchie zu bilden. Welcher Wert ist ihnen am wichtigsten und welcher weniger wichtig? Diejenigen, die angaben, »liberal« zu sein (also für
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