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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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1990er Jahre zeigte der Psychologe Yasuko Minoura von der Universität Tokio, wie schnell Jugendliche sich anpassten. 14 Japanische Kinder im Alter von 9-15 Jahren, die mit ihren Familien für mehrere Jahre in Kalifornien lebten, verwandelten sich in Windeseile in waschechte US-Amerikaner. Waren die Kinder jünger als neun oder älter als 15, so blieb dieser schnelle und starke Anpassungsprozess meistens aus.
    Die Entwicklung des orbitofrontalen Cortexes allerdings zieht
sich in abnehmendem Tempo bis ins dritte Lebensjahrzehnt. Erst mit Anfang zwanzig ist der Mensch neurochemisch ausgereift. Die Weichenstellung ist fertig, von nun an werden nur noch die Gleise erneuert.
     
    Die Fähigkeit des Menschen zur Moral ist angeboren. Schritt für Schritt spulen wir ein »Programm« ab, das von der Nachahmung über das Mitgefühl bis zu einem Sinn für Gerechtigkeit reicht. Dabei sind wir in der gesamten Spanne starken erzieherischen Einfüssen ausgesetzt. Intensive Bindungen, das Gefühl der Geborgenheit und das Wissen, verstanden zu werden, wirken positiv auf unsere Entwicklung ein. Aus dem Zusammenspiel zwischen individuell verschiedenen natürlichen Anlagen und Einfüssen der Erziehung kommt es zu unterschiedlichen Ausprägungen von Charakteren. Die Fähigkeit zum Mitgefühl und das Empfinden von Gerechtigkeit sind jedem normalen gesunden Menschen gegeben, ihre Reichweite und ihr Zuschnitt sind allerdings individuell verschieden.
     
    Der Mensch ist von Natur aus nicht nur auf Rivalität ausgelegt, sondern auch - und in weit stärkerem Maße - auf Kooperation. Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn belegen dies auf eindrückliche Weise. Mit diesem Wissen im Hinterkopf erscheint es sinnvoll, auf das Thema des 3. Kapitels (vgl. Wolf unter Wölfen. Das sogenannte Schlechte) zurückzukommen und es weiterzuführen. Nach all dem, was wir inzwischen über unsere sozialen Intuitionen und unsere zielgerichteten Überlegungen wissen, stellen wir noch einmal die Frage: Wie hoch ist die Dosis der Selbstsucht in unserem Verhalten? Wie viel Egoismus treibt uns tagtäglich an?
     
    • Soziales Schach. Wie viel Egoismus steckt im Menschen?

Soziales Schach
    Wie viel Egoismus steckt im Menschen?
    Mein Leben besteht darin, dass ich mich mit manchem zufriedengebe.
    Ludwig Wittgenstein
     
     
    Heute Morgen sind Sie aufgestanden und haben sich angezogen. Und wenn Sie jetzt nicht gerade im Bett liegen und im Schein einer Nachttischlampe diese Sätze lesen, dann sind Sie vermutlich bekleidet. Wahrscheinlich haben Sie sich nicht die ganze Nacht auf das Anziehen am Morgen gefreut. Sie haben dem nicht entgegengefiebert, sich ein Hemd, eine Bluse, eine Hose oder einen Rock anzuziehen. Es war Ihnen kein Verlangen und nicht die Erfüllung eines selbstsüchtigen Wunsches. Als Sie sich die Zähne geputzt haben, haben Sie möglicherweise keine Lust und keine tiefe Befriedigung verspürt. Trotzdem haben Sie es getan.
    Sie haben heute Dinge gemacht und Vorrichtungen getroffen, zu denen Sie kein Bedürfnis getrieben hat. Und Sie haben dabei vermutlich kein Augenmerk darauf gerichtet, was Sie davon Großartiges haben. Denn wenn Sie sich nun fragen: »Wie oft habe ich heute auf meinen direkten Vorteil geschaut?«, dann könnte es sein, dass es tatsächlich selten war.
    Wahrscheinlich haben Sie den ganzen Tag lang eher Nachteile vermieden. Oder Sie haben, wenn überhaupt, sehr indirekte Vorteile kalkuliert. Sie haben zum Beispiel gewusst, dass Sie dumm auffallen würden, wenn Sie unbekleidet zur Arbeit gegangen wären. Sie mussten noch nicht einmal darüber nachdenken. Es war Ihnen ganz selbstverständlich. Im Büro haben Sie ohne größere Empfindungen mehr oder weniger ordentlich Ihre Arbeit gemacht.
Obwohl Ihr stärkstes Gefühl zwischendurch vielleicht der Ärger über einen Kollegen war oder eine sexuelle Phantasie. Sie haben dem nicht lange nachgegeben und sich schnell wieder auf Ihre Pflicht konzentriert. Ihr emotionaler Hund hat nicht entschieden, sondern Ihr rationaler Schwanz. Kurz gesagt: Sie haben nicht Lust gesucht, sondern Leid vermieden. Das ist unser normales Leben.
    Für einen kühl kalkulierenden Genegoisten war Ihr Tag allerdings ein Fiasko. Jedenfalls wenn Sie als Frau heute nicht von einem tollen Mann schwanger geworden sind. Oder wenn Sie als Mann nicht mindestens zwei oder drei Frauen geschwängert haben. Warum haben Sie heute nicht mindestens einen Nebenbuhler oder eine Nebenbuhlerin kaltgestellt? Warum haben Sie Ihre Mitmenschen nicht

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