Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
Vom Netzwerk:
die Verteilungsgerechtigkeit entschieden und die größere Last von 18 stornierten Mahlzeiten für zwei Kinder in Kauf nahmen, leuchtete dagegen eine Region in der Großhirnrinde auf, die in etwa so groß ist wie ein Zwei-Euro-Stück: die Inselrinde.
    Bezeichnenderweise ist die Inselrinde kein Stammplatz der Logik oder der Vernunft. Ihre Aufgaben sind bis heute erst unzureichend erforscht. Aber ohne Zweifel ist sie eine Region höchster Sensibilität. Die Inselrinde verarbeitet körperliche Empfindungen und spielt eine wichtige Rolle dabei, Emotionen hervorzurufen. Der Geruchs- und Geschmackssinn haben hier ebenso ihren Ort wie das akustische Denken, die emotionale Bewertung von Schmerzen und wohl auch der Gleichgewichtssinn.
    Entwickelte sich der Gerechtigkeitssinn aus dem Gleichgewichtssinn? Die Annahme erscheint denkbar. Und ist er ein sinnlicher Reflex, hoch intuitiv und emotional? Anwälte der sozialen Intuitionen, wie Altmeister David Hume oder sein geistiger Nachfahre Jonathan Haidt, hätten allen Grund zu frohlocken: Auch die Gerechtigkeit ist kein vernünftiges Handeln, sondern spontan und emotionsgetrieben.
    Ob Ming Hsus Experiment für eine solche Schlussfolgerung ausreicht, sei allerdings sanft bezweifelt. Weder wissen wir alles über die Inselrinde, was es über sie zu wissen gibt. Noch dürfen
wir davon ausgehen, dass die meisten Kernspintomografen der heutigen Generation tatsächlich ausreichen, um alle relevanten Vorgänge im Gehirn abzubilden. In jedem Fall aber öffnet der Versuch das Tor zu weiteren Experimenten der Hirnforschung auf diesem Gebiet. Auch die Wirtschaftspsychologie setzt auf eine neue Generation von Kernspintomografen, die es ermöglichen, den Fluss der Hormone und Neurotransmitter auf dem Computerbildschirm zu zeigen.
    Eine geeignete Anordnung für eine solche Untersuchung wäre zum Beispiel das von Fehr professionalisierte Vertrauensspiel. 9 Zwei Spieler, die sich nach diesem Spiel nie wiederbegegnen werden, erhalten je zehn Euro. Gibt der eine Spieler dem anderen sein Geld, so verdoppelt der Spielleiter den Betrag. Der eine Spieler hat nun vierzig Euro, und der andere hat gar nichts. Der Spielleiter stellt dem Spieler mit dem Geld frei, dem anderen, wenn er es will, etwas zurückzugeben oder nicht. Was wird der Spieler mit den vierzig Euro machen? Nun, fast alle Spieler gaben ihrem Gegenüber Geld zurück, viele sogar die Hälfte.
    Die Frage an die Hirnforscher ist: Welche Gehirnregionen werden bei »Fairness« aktiviert? Antwort: in einem besonderen Maße der orbitofrontale Cortex im rechten Stirnhirn. In einer Versuchsserie zum Ultimatumspiel (vgl. Kreischende Kapuziner. Ist Fairness angeboren?) bestrahlten die Forscher an der Universität Zürich die Köpfe ihrer Versuchspersonen mit starken Magnetfeldern. Trafen die Strahlen das rechte Stirnhirn und blockierten so seine Funktion, ließen sich die Mitspieler des Ultimatumspiels bedenkenlos mit den geringsten Beträgen abspeisen. 10
    Noch spektakulärer als die Frage nach dem Hirnareal ist die Suche nach der neurochemischen Basis unseres Gerechtigkeitssinns. Welche Stoffe beeinflussen unser Fairnessgefühl? Elektrisiert für diese Frage wurde Fehr, als er feststellte, dass man das Gefühl für Fairness durch eine direkte chemische Einwirkung im Gehirn beeinflussen kann. In einer Versuchsreihe zum Vertrauensspiel ließ er einigen Spielern Oxytocin in die Nase sprühen.
Oxytocin ist ein Hormon, das unsere Bindungsgefühle stark intensiviert. 11 Normalerweise wird es freigesetzt beim Stillen, beim Streicheln, beim Kuscheln und beim Sex. Andere Spieler dagegen erhielten statt des Oxytocins ein Placebospray. Was war das Ergebnis? Die Vertrauensseligkeit, die Nettigkeit und Freigiebigkeit stiegen unter dem Einfluss von Oxytocin deutlich an.
    Die hohe Bedeutung des »Wohlfühlhormons« Oxytocin für unser Vertrauen zeigt, wie unser Sozialverhalten von unserer Hirnchemie beeinflusst wird. Und diese wiederum prägt sich in wesentlichen Teilen schon bei Babys und Kleinkindern aus. Ob bei Erwachsenen in bestimmten sozialen Situationen Schaltkreise aktiviert oder Hormone ausgeschüttet werden, hängt also sehr wesentlich davon ab, welche Erfahrungen sie mit ihren nächsten Bezugspersonen in der Kindheit gemacht haben. Doch so allgemein diese Regel gilt, so speziell ist die Hirnchemie jedes einzelnen Menschen. Eine angeborene Veranlagung für eine starke Produktion von Sexualhormonen, Testosteron oder Östradiole, wirkt sich ohne Zweifel

Weitere Kostenlose Bücher