Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Besonders die Frage nach dem Gerechtigkeitssinn gibt dabei große Rätsel auf. Warum ist er so unterschiedlich ausgeprägt? Wieso gibt es Kinder, denen schon im Alter von vier Jahren das Teilen leichtfällt? Und warum lernen es andere - trotz Zureden der Eltern - nie?
Auf der einen Seite schauen sich Kinder ihr Verhalten von ihren nächsten Bezugspersonen ab. Die Gesten, die sie beobachten, sind dabei mindestens ebenso wichtig wie Worte, was angesichts der im 4. Kapitel (vgl. Der Fürst, der Anarchist, der Naturforscher und sein Erbe. Wie wir miteinander kooperieren) beschriebenen Entwicklung des Menschen nicht verwundert. Nicht selten erkennen wir die Zusammengehörigkeit von Eltern und Kindern an der Körpersprache, selbst wenn die Sprösslinge ihren Eltern nicht besonders ähneln. Die Überzeugungen eines Menschen bekunden sich in seinem Tun klarer als in seinen Worten; ein Umstand, der bereits Kindern evident scheint. Gespürte Wärme wirkt sich gewiss nachhaltiger aus als eine verbale Liebeserklärung. Und vorgeführtes Mitgefühl ist wirkungsmächtiger als der abstrakte Appell, sich gefälligst zu kümmern oder etwas abzugeben.
Doch so wichtig emotionale Geborgenheit, Zuwendung und fördernder Einfluss sind - sie führen noch lange nicht zwangsläufig zu einem »guten« Menschen. Selbst die liebevollste und umsichtigste Erziehung ist keine Garantie. Der Grund dafür dürfte sein, dass unsere Gehirne von Geburt an nicht identisch sind und folglich auch nicht sicher programmierbar. Doch bevor wir jeden individuellen Unterschied berücksichtigen - wäre es nicht schön zu wissen, was ganz allgemein sich in unseren Gehirnen abspielt, wenn wir meinen, »gerechte« Entscheidungen zu treffen?
Wissenschaftliche Bücher über die Gerechtigkeit füllen ganze Bibliotheken. Aber was tatsächlich in unseren Köpfen vorgeht, wenn wir glauben gerecht zu sein, ist bis heute kaum erforscht. Umso mehr Aufmerksamkeit erregte im Jahr 2008 ein Experiment des Hirnforschers Ming Hsu, Professor für kognitive Neurowissenschaften an der University of Illinois in Urbana-Champaign. Seine Versuchspersonen waren 26 Männer im Alter zwischen 29 und 55 Jahren. Allesamt wurden sie mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert, einem moralischen Dilemma. 8
Die Aufgabe lautete wie folgt: Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in Uganda und kümmern sich dort um Waisen. Ihre Aufgabe ist die Versorgung der Kinder mit Lebensmitteln. Eines Tages kommen Sie in eine besondere Situation. Ein Lieferengpass führt dazu, dass die Gesamtmenge des Essens reduziert wird. Da die Entfernungen zwischen den Dörfern riesig sind und Ihre Lebensmittel leicht verderben, bleibt Ihnen spontan nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder Sie kürzen einem einzelnen Kind in dem einen Dorf 15 Mahlzeiten. Oder Sie kürzen insgesamt 18 Mahlzeiten bei zwei Kindern, die noch etwas entfernter wohnen, so dass jedes auf 9 Mahlzeiten verzichten muss.
Bevor Sie jetzt lautstark protestieren - Sie haben völlig Recht: An der Realität gemessen ist die Versuchsanordnung konstruiert und befremdlich. Was sollen das für Lebensmittel sein, die portionsweise verderben? Und warum dürfen Sie nur eines oder zwei Kinder auswählen, die zu kurz kommen müssen? Aber wir sollten zur Ehrenrettung des Experiments den Versuch nicht an einer realistischen Situation messen. Die Frage, um die es hier geht, lautet schlicht: Ist es gerechter, dass einer stärker »bestraft« wird oder zwei etwas weniger stark? Im ersten Fall ist die Zumutung brutaler, im zweiten Fall trifft es zwei hungrige Mägen statt einem.
Das Ergebnis unter den Versuchspersonen war eindeutig. Die meisten entschieden sich für die zweite Variante. Ganz offensichtlich
schien es ihnen gerechter zu sein, zwei Kinder in Mitleidenschaft zu ziehen, als eines die volle Last tragen zu lassen. Das Besondere an dem Versuch aber war, dass die Forscher den Männern bei ihrer Entscheidung mithilfe der Magnetresonanztomografie ins Gehirn sahen. Ming Hsu und seine Kollegen meinten dabei, etwas Bahnbrechendes zu erkennen. Männer, die sich für die Variante mit 15 stornierten Mahlzeiten für ein Kind entschieden, kalkulierten offensichtlich den Gesamtnutzen. Der Kernspintomograf zeigte dabei eine starke Aktivität des Putamen, eines Areals in den Basalganglien, das eigentlich für Bewegungsmotorik, aber möglicherweise darüber hinaus auch für einfaches zielgerichtetes Denken zuständig ist. Bei den Männern, die sich für
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