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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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ebenfalls auf unser Sozialverhalten aus. Dominante Kinder, so eine oft wiederholte Beobachtung, zeigen im Schnitt eine geringere soziale Sensibilität als weniger dominante. Und auch ihr Gerechtigkeitsempfinden scheint oft schwächer entwickelt zu sein.
    Etwa im Alter von zehn bis zwölf Jahren beginnen Kinder sich ein Bild davon zu machen, wer sie sind. So können sie sich nun fragen, ob sie ein »guter« Mensch sind und sich allgemein »gut« verhalten oder nicht. Sie gewinnen eine Vorstellung davon, was ein »normales« Verhalten ist, und empfinden im Zweifelsfall starke Schuldgefühle. Auch die Widersprüchlichkeit von sozialen Intuitionen wird plötzlich zum Thema. Man freut sich über einen Sieg, obwohl es zugleich an einem nagt, dass er unfair errungen wurde. Oder man lästert vergnügt über einen Freund, obgleich es einen durchzuckt, dass dies illoyal ist. Und man trennt Schein und Sein, wenn man die Gefühlszustände anderer Menschen enträtselt.

    Ein Buch zu diesem Thema, das vor zwanzig Jahren erschienen wäre, würde an dieser Stelle enden. Mit etwa zwölf Jahren, so die damalige Sicht der Entwicklungspsychologie, ist der moralische Mensch fertig. Der Rest ist Übung und Erfahrung. Eltern, die sich über ihre pubertierenden Kinder aufregten, durften getrost davon ausgehen, dass ihre Kinder sie nicht nur im vollen Umfang verstehen, sondern auch ihr Verhalten ändern könnten, wenn sie nur wollten. Da Pubertierende häufig bereits über das versammelte Arsenal an Argumenten und perfiden Gemeinheiten eines Erwachsenen verfügen, lag diese Sicht in gewisser Weise auch nahe.
    Die Hirnforschung der letzten beiden Jahrzehnte revolutionierte dieses Bild gewaltig. Renommierte Wissenschaftler wie der Hirnforscher und Kinderpsychiater Jay Giedd von den National Institutes of Mental Health in Washington und Maryland zeichnen heute ein ganz anderes Bild vom Teenagergehirn. 12 Für sie ist es kein fertiges Haus, sondern eine Großbaustelle. In der Pubertät bilden sich Millionen neuer Verknüpfungen im Gehirn, wogegen andere verschwinden. In einer Großstudie im Zeitraum von 15 Jahren fanden die Forscher heraus, dass das Gehirn der Teenager geradezu explodiert, die graue Substanz wächst sprunghaft an. Gleich mehrere wichtige Areale sind davon betroffen. Im Parietallappen wachsen das räumliche Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit zur Logik. Im Temporallappen hinter der Schläfe bildet sich das sensorische Sprachzentrum weiter aus, wodurch sich das Verständnis für Sprache verbessert.
    Die größten Veränderungen aber geschehen im Frontallappen unmittelbar hinter unserer Stirn. Hier liegen Areale wie die orbitofrontale und die ventromediale Region - Bereiche, die für Verständnis, Abwägen, strategische Planung und Meinungsbildung und damit ganz wesentlich auch für Moral zuständig sind. Gerade hier befindet sich das Gehirn eines pubertierenden Menschen in einem ständigen Zustand der Überforderung.
Alle Zutaten eines Erwachsenen sind bereits vorhanden, aber sie liegen wie Kraut und Rüben durcheinander. Der Stirnlappen eines Teenagers ist mindestens so unaufgeräumt wie sein Zimmer, in dem alles durcheinanderfliegt. Heranwachsende zwischen 11 und 15 befinden sich in einem permanenten Ausnahmezustand. Hypersensibilität, aufblitzende Intelligenz, Maßlosigkeit und die Unfähigkeit, einmal eingenommene Haltungen zu wechseln, sind Kennzeichen dieses neurochemischen Blitzeinschlags.
    Von der Menge der Nervenverbindungen her betrachtet ist kein Mensch jemals wieder so intelligent wie in der Pubertät. Nur sind wir in dieser Zeit so orientierungslos, dass wir oft nur wenig Vernünftiges damit anfangen können. Der Hirnforscher Robert McGivern von der San Diego State University dokumentierte, welche Schwierigkeiten Jugendliche oftmals damit haben, die Mimik anderer Menschen präzise zu lesen und deren Emotionsdynamik richtig einzuschätzen. 13 Teenager empfänden vieles als unfair, weil sie gegenüber den Gefühlen anderer unsicher sind. Der Natur sei Dank entwickelt sich die ungeheure Menge an grauen Zellen nach der Pubertät wieder zurück. Unser Gehirn schrumpft sich gesund und leistet dabei eine große Aufräumaktion. Nervenverbindungen, die »nichts bringen«, werden gekappt, andere Schaltkreise verstärken und automatisieren sich.
    Die positive Kehrseite des Aufruhrs im Gehirn während der Pubertät liegt auf der Hand: Nie wieder sind wir so offen und neugierig wie in dieser Lebensphase. Bereits Anfang der

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