Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
konsequent zu Werkzeugen Ihrer Interessen gemacht? Warum haben Sie nicht gelogen, was das Zeug hält, um sich vor anderen wichtig zu tun? Und warum, zum Teufel, war Ihnen nicht alles, was andere heute von Ihnen dachten, völlig egal?
Stellen wir uns einen außerirdischen Verhaltensforscher vor, der einen Menschen in einem westlichen Industrieland über ein paar Monate in seinem Biotop beobachtet. Er käme zu einem denkwürdigen Ergebnis. Sein Bericht läse sich vermutlich so: »Menschen verbringen ihre Stunden und Tage damit, ihren Routinen nachzugehen. Dabei haben sie immer wieder launische Neigungen. Sie suchen Zerstreuung und Ablenkung, geben sich kleinen und seltener großen Gefühlsaufwallungen hin, flüchten in angenehme Einbildungen, ergehen sich in Ängsten und Befürchtungen. Doch alles in allem bewegen sie sich in festen Bahnen. Ihre Gefühle motivieren sie fast nie zu großen Entscheidungen. Auch die Vertiefung in längere vernünftige Abwägungen ist nur selten zu beobachten. So verbringt das intelligenteste Tier der Welt seinen Tag. Dabei tut es erstaunlicherweise immer wieder Dinge, die scheinbar seinem biologischen Wohl widersprechen, etwa rauchen, Alkohol trinken, fett essen und sich zu wenig bewegen.«
So in etwa sieht unsere Lebensrealität aus. Umso erstaunlicher ist, dass seit Ende der 1980er Jahre eine ganze Generation angelsächsischer Biophilosophen, Verhaltensökonomen und Wissenschaftsautoren (und auch einige deutsche Sympathisanten) mit einer äußerst simplen These auf den Plan tritt: Der Antrieb all unseres Handelns sei nichts als Vorteilsstreben und Egoismus. Wer Bücher liest wie etwa die von Richard Alexander (The Biology of Moral Systems), Robert Frank (Passions within Reason), Robert Wright (The Moral Animal) oder Matt Ridley (The Origins of Virtue), der erfährt zwei grundlegende Einsichten in die menschliche Natur. 1 Die erste Einsicht lautet: Unsere Moral ist nicht bewusst, sondern intuitiv. Die zweite Einsicht lautet: Unsere Moral ist nicht (oder nur in einem sehr geringen Maß) kulturell bedingt, sondern sie folgt dem logischen Kalkül unserer Gene. Wer die Tragweite dieser Gedanken ermessen will, der braucht sich nur vorzustellen, was zwei Jahrtausende lang zuvor gedacht worden war: Erstens: Die Moral ist sehr weitgehend eine Frage bewusster Einsichten. Und zweitens: Sie ist überwiegend eine Kulturleistung, die exklusiv dem Menschen vorbehalten ist.
Dass unsere Fähigkeit zur Moral ihre Wurzeln im Tierreich hat, davon war ausführlich die Rede. Die Ansicht von einer Sonderstellung des Menschen ist falsch. Es gibt moralische Instinkte, die sehr alt sind, vermutlich älter als unsere Sprache und Kultur. In dieser Frage besteht zu den genannten Biophilosophen und Wissenschaftsautoren kein Widerspruch. Aber wie sieht es mit der zweiten Einsicht aus? Spiegelt sich in unserem moralischen Verhalten tatsächlich das egoistische Kalkül unserer Gene?
Erinnern wir uns an William Hamiltons Spekulation, dass alle Tiere einschließlich des Menschen von ihren Genen gesteuert werden. Auf die Moral angewendet heißt das bei Alexander, Ridley und Wright: Unsere Psyche wird beherrscht von einer genetischen Vorteilskalkulation, auch wenn wir es selbst nicht merken. Doch dafür, dass wir solche Bestien sind, sind wir erstaunlich
oft nett zueinander. Die enorme Kooperationsfähigkeit des Menschen lässt sich kaum übersehen. Wie ist sie möglich, und warum ist sie sinnvoll? Diese Frage versuchen die Autoren auf nahezu identische Weise zu beantworten. Ihr Kunststück lautet: Arbeite den biologischen Vorteil der Kooperation heraus, ohne dabei an der menschlichen Natur auch nur einen Funken an Gutem zu lassen.
Der Ausgangspunkt all dieser Überlegungen ist Robert Trivers’ Einsicht in den »reziproken Altruismus«: »Ich gebe dir nur, wenn du mir auch gibst!« Nach Ansicht der Autoren beherrscht diese Maxime unser ganzes Leben. Altruismus ist »eine Investition in ein Kapital, das sich Vertrauenswürdigkeit nennt und später einmal ganz nette Dividenden in der Form anderer Leute Großzügigkeit auszahlt. Daher ist der kooperative Mensch alles andere als wahrhaft altruistisch; er hat nur stärker sein langfristiges Eigeninteresse im Blick als das kurzzeitige.« 2
Hat Trivers Recht? Sind wir alle Egoisten, eingeteilt in die kurzfristigen und die langfristigen? Dem Wortsinn nach bedeutet Egoismus »Eigennützigkeit«. Fasst man das Wort so allgemein, dann sind wir sicher alle Egoisten. Zwar sind
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