Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Egoismus. Schielen wir nicht auch in unseren Nettigkeiten stets auf Lohn und Vorteil?
Der Insektenspezialist Richard Alexander von der University of Michigan in Ann Arbor bezweifelt grundsätzlich, dass wir irgendetwas tun, was uns keinen persönlichen Vorteil bringt. Man nehme nur einen Blutspender. Vordergründig hat er von seiner Tat überhaupt nichts. Er bekommt kein Geld, keinen Orden und nicht einmal eine Vorzugsbehandlung, falls er selbst eine Bluttransfusion benötigen sollte. Aber, so Alexander, was soll das heißen?
»Wer von uns wird nicht ein bisschen kleinlaut in der Gegenwart von jemandem, der beiläufig bemerkt, er käme gerade vom Blutspenden?« Zweck des Blutspendens ist also Angeberei und das Triumphgefühl, andere »kleinlaut« werden zu lassen. Damit wäre auch dies geklärt.
Vor der Einsicht in das unbedingte Vorteilsstreben aller Menschen zu jeder Zeit bleibt an unserem Wesen kein gutes Haar. Und wer anders als egoistisch handelt, so der Ökonom Robert Frank von der Cornell University in Ithaca im US-Bundesstaat New York, ist nicht etwa eine rühmliche Ausnahme. Nein, hat einen Hau! Was sind das zum Beispiel für seltsame Menschen, die in einer fremden Stadt einem Kellner Trinkgeld geben? Wer spendet anonym oder opfert sein Leben für Waisenkinder in Ruanda auf? Für solche Hardcorealtruisten gibt es nur eine denkbare Erklärung: Sie haben eine Fehlzündung und sind Opfer ihrer unkontrollierten Gefühle. Ihr gesunder Sinn für den reziproken Altruismus ist gestört. Verhaltensweisen, die eigentlich der Anerkennung dienen, haben sich so verselbständigt, dass sie ziellos und unbedacht ins Leere laufen.
Man müsste sich mit diesen Ansichten nicht befassen, wenn sie in den letzten zwanzig Jahren nicht so ungeheuer einflussreich gewesen wären. Dass unser ganzes komplexes, kompliziertes und oft widersprüchliches Verhalten immer nur auf unseren Vorteil aus ist, ist die große Erzählung der Verhaltensbiologie unserer Zeit. Und wer anders handelt, ist entweder ein Heuchler, oder er ist falsch gepolt: all die vielen Menschen, die sich in Menschen verlieben, die nicht gut für sie sind, die Millionen Menschen, die sich ausnutzen lassen, all die netten Menschen, die Geld spenden oder ihrer gebrechlichen Nachbarin beim Einkaufen helfen.
In den Listen der deutschen Krebshilfe finden sich mehr als drei Millionen Menschen, die sich bereiterklärt haben, ihr Knochenmark für einen unbekannten Leukämiekranken unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. In buddhistisch geprägten Ländern ordnen Hunderttausende ihr privates Wohl dem Dienst an der
Allgemeinheit unter. Und wonach suchen in den reichen Entwicklungsländern die knallharten Egoisten, die sich mit Esoterik und Sinnsuche beschäftigen und sich von ihren falschen Bedürfnissen reinigen lassen wollen?
Haben Ridley, Alexander, Wright, Frank und viele andere Recht, so handeln all diese Menschen entgegen ihrer Natur. Ein rechter Homo sapiens dagegen ist ein Kapitalist westlicher Prägung: Jede seiner Handlungen ist eine Investition - seine Freundschaft, seine Liebe, seine Freundlichkeit. Und das Einzige, was zählt, sind Zinsen, Rendite und Profit.
Sollte diese Sicht stimmen, so wären Philosophen von nun an nicht mehr nötig. Im Licht der neuen Lehre erscheinen sie wie ein anachronistischer Haufen von Idealisten, die sich schützend über ihr Fach beugen wie Paläontologen über ein paar seltene Dinosaurier und ihre Eier. Wir täten auch gut daran, die psychologischen Fakultäten zu schließen und die Biologie des menschlichen Verhaltens dort anzusiedeln, wo sie hingehört: zu den Wirtschaftswissenschaften. Ihr Thema wäre die Geburt des Homo sapiens aus dem Geist des Kapitalismus. Und anschließend die Wiedergeburt des Kapitalismus aus dem Geist des Homo sapiens.
Ihre Lehre wäre wie folgt: Irgendwann, an einem ganz bestimmten Punkt der Evolution, erkannten unsere egoistischen Vorfahren, dass es nicht weiter sinnvoll ist, sich nur die Köpfe einzuschlagen. In diesem Augenblick entdeckten sie die Kooperation, mit ihr die Arbeitsteilung und das Teilen im Allgemeinen. Sie erkannten, dass kein Mensch allein ein Mammut aufessen kann und man deshalb ohne Verlust auch mal was abgeben darf. Etwas Fürchterliches und Fruchtbares entstand: der perfide Egoismus, der sich als Altruismus tarnt, weil sich der lonesomecowboy -Egoismus nicht mehr lohnte. Denn wer einem begehrten Weibchen möglichst viel von seinem Mammutfleisch abgibt, der kriegt zum Lohn bald
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