Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
die deutschen Nachrichten, dann die internationalen. Ein Ministerrücktritt in Deutschland ist wichtiger als ein Bürgerkrieg in Afrika. Nur Katastrophen, so scheint es, machen von dieser Regel eine Ausnahme. Aber auch hier gilt das Messen mit unterschiedlichem Maß. Ein Flugzeugabsturz in Deutschland ist eine ganz andere Sensation als ein Absturz in Turkmenistan - es sei denn, es sind »Deutsche unter den Toten«.
Das Eigentümliche daran ist, dass der Begriff der Nation oder eines Volkes eigentlich viel zu groß ist, um unser ernsthaftes Mitgefühl zu erlangen. Deutscher oder Franzose zu sein ist eher eine Scheinidentität. Zumindest liegt sie 500 000-fach über der Dunbar-Zahl. Im Alltag kennen wir überhaupt keine Deutschen,
nicht einmal Kölner. Bei Streit mit einem Unbekannten auf der Straße ist es mir völlig egal, ob er Deutscher und Kölner oder Niederländer und Utrechter ist. Nur bei einem Sieg im Fußball fallen sich alle Kölner und Deutsche siegestrunken in die Arme. Und während man in Köln selten in andere Autos guckt, drückt man sich in Lappland die Nase platt, ob man die Leute in dem Auto mit dem K-Kennzeichen auf der Nebenspur nicht doch von irgendwoher kennt.
Die Reichweite unseres Zugehörigkeitsgefühls lässt sich in bestimmten Situationen ausdehnen. Aber nur kurz. Als das Fußball-Sommermärchen 2006 vorbei war, war auch der Partyotismus der vergangenen Wochen dahin. Von Abraham Lincoln stammt der Satz: »Man kann wenigen Menschen lange etwas vormachen. Und man kann vielen Menschen kurze Zeit etwas vormachen. Aber allen Menschen immer etwas vorzumachen ist unmöglich.« Etwas Ähnliches gilt gewiss auch für Gruppen. Man kann sich lange in kleinen Gruppen zusammenschließen. Und man kann sich kurze Zeit zu einer großen Gruppe zusammenschließen. Aber sich immer und dauerhaft zu einer großen Gruppe zusammenzuschließen ist Menschen nicht möglich.
Sechs Menschen, die aus der gleichen Stadt kommen und zufällig am gleichen Ort Urlaub machen, sind keine Gruppe. Wenn sie sich aber zusammenschließen und gemeinsame Aktionen machen, sind sie eine. Wechselseitiges Interesse und ein gewisses Maß an Solidarität sind der Kitt einer jeden Gruppenstruktur. »Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns«, forcierte der US-amerikanische Präsident George W. Bush diese Primatenlogik in seinem sogenannten »Kampf gegen den Terror«. Ein sicherer Beweis dafür, dass man auch dann ins Schwarze treffen kann, wenn man ins Blaue redet.
Wer sich in Gruppen zusammenschließt, kennt immer »Fremde«. Dass er dafür auch zwingend »Feinde« braucht, ist keine feste Regel. Offensichtlich können sie der Gruppensolidarität jedoch oft nützlich sein. Wenn der Gruppenrand zu einer »zweiten
Haut« wird, markiert auch er eine wichtige Grenze meiner Identität. Die Geschichte der politischen Kultur von Menschen zeigt eindrucksvoll, wie Grenzen Identitäten schaffen. Grenzen des Territoriums, Grenzen der Sprache, Grenzen der Religion. Vielleicht ist es gerade deshalb so schwierig, Grenzen einzureißen. Denn wohin verschwinden die Grenzen? Vermutlich verschwinden sie nie. Sie werden immer wieder woanders aufgebaut, weil Menschen und Kulturen »die anderen« brauchen, um zu wissen, wer sie selbst sind. Nach dem Untergang des Staatssozialismus in Osteuropa wendete sich der »freie Westen« zur »westlichen Wertegemeinschaft«. Und während das Adjektiv »frei« die Grenze zum Sozialismus sein sollte, entdeckte man die »Werte« gegen den arabischen Fundamentalismus.
Als soziale Primaten schließen sich Menschen in Gruppen und Horden zusammen. Dabei trennen sie moralisch stark, wer dazugehört und wer nicht. Für die Mitglieder meiner Gruppe gilt ein anderes Maß der Beurteilung und der Wertschätzung als für andere. Unsere Primatennatur ist verantwortlich dafür, dass wir viele Probleme kaum wahrnehmen oder nicht an uns heranlassen, weil es nicht »unsere« sind. Statt die Nöte und Notwendigkeiten der Welt frei abzuwägen, folgen wir intuitiv den anderen und teilen den Bewusstseinsradius der Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen.
Schwarmorientierung und Hordenmoral sind typisch menschliche Verhaltensweisen, die unsere Fähigkeit zum Mitgefühl einschränken und unserer alltäglichen Vernunft Grenzen setzen. Doch gerade hierin liegt zugleich eine der größten Bedrohungen unserer moralischen Urteilskraft: die Konformität. Und nur durch sie lässt sich erklären, dass ein und dieselben Menschen, die an
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