Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
die sich verweigerten.
Die Mordaktion zog sich über den ganzen Tag hin. Die Polizisten durchkämmten die Häuser und trieben die Menschen zusammen. Flüchtlinge, Kranke und Kleinkinder sollten sofort erschossen werden. Mütter hielten ihre Säuglinge und Kleinkinder schützend an sich. Einige der Polizisten brachten es fertig, sie zu erschießen. Andere schossen vorbei, suchten sich Versteckplätze oder trieben sich unnötig lange in den leeren Häusern herum. Nur wenige baten ihre Vorgesetzten um die Erlaubnis, jetzt noch ausscheren zu dürfen. Am Waldrand wurden die Zusammengetriebenen im Minutentakt erschossen. Die vorgeschriebene »saubere« Tötung glückte nur den wenigsten. Mit zitternden Händen trafen viele Polizisten ihre Opfer falsch. Schädel zersprangen, Gehirnmasse und Knochensplitter flogen umher. Major Trapp blieb derweil im Klassenzimmer der Schule von Józefów und ging unruhig hin und her. Den Aussagen seiner Untergebenen nach weinte er bitterlich und verfluchte sein Schicksal. Am Abend, als alle Polizisten versammelt waren, wurde gesoffen. Trapp versuchte seine Männer zu beruhigen. Schließlich seien nicht sie schuld, sondern »höhere Stellen«. Die Stimmung
blieb auf dem Tiefpunkt. Die meisten Polizisten waren aufgewühlt und entsetzt über sich selbst. Man verständigte sich darauf, niemals ein einziges Wort über das Geschehene zu verlieren.
Dass Angehörige eines Polizeibataillons in Polen und Russland Juden ermordeten, war nichts Ungewöhnliches. Und obwohl die Polizisten des Bataillons 101 nach dem Massaker von Józefów noch mehrfach an Deportationen und Erschießungen beteiligt waren, gehören ihre Verbrechen im Vergleich zu den Gräueltaten anderer Polizeieinheiten noch nicht einmal zu den allerschlimmsten. 2 Das Ungewöhnliche an dem Fall von Józefów ist etwas anderes: dass nämlich, im Unterschied zu fast allen anderen Massakern, die Männer die Möglichkeit gehabt hatten, sich zu entziehen.
Warum hatten so wenige diese Chance genutzt? Unter den Offizieren gab es junge scharfe SS-Leute, die Zyniker waren und Antisemiten. Aber der weitaus größere Teil der Männer war nicht als besonders antisemitisch aufgefallen. Nur die allerwenigsten hatten einen Hass an den Juden zu stillen. Die Polizisten hatten ihre prägenden Jahre vor der Nazi-Zeit gehabt. »Sie hatten«, wie Browning schreibt, »noch andere politische und moralische Normen als nur die der Nazis kennengelernt. Die meisten von ihnen kamen aus Hamburg, das im Ruf steht, zu den am wenigsten nationalsozialistisch ausgerichteten deutschen Großstädten gehört zu haben. Und die Mehrheit der Männer stammte aus einer sozialen Schicht, der eine antinationalsozialistische politische Kultur zu eigen gewesen war.« 3
Auch andere naheliegende Erklärungen scheinen nicht zu passen. Der militärische Gehorsam, der bei einer solchen Aktion normalerweise abverlangt wird, wurde von Trapp ausdrücklich aufgehoben. Es durfte eine Ausnahme gemacht werden. Schwerwiegende Folgen waren nicht zu befürchten. Gewiss spielte auch der Mangel an Bedenkzeit eine Rolle. Den Männern fehlte die Möglichkeit, ihre Entscheidung zu überschlafen, sie mussten sich in Sekunden entscheiden. Doch was dann in der Sekundenschnelle
der Entscheidung geschah, scheint die eigentliche Quintessenz der Geschichte zu sein. Kaum einer der Männer wollte vor seinen Kameraden als Feigling dastehen, der die anderen im Stich lässt: »… die meisten schafften es einfach nicht, aus dem Glied zu treten und offen nonkonformes Verhalten zu zeigen. Zu schießen fiel ihnen leichter.« 4 Im Ergebnis hieß dies: lieber ein Mörder als ein Kameradenschwein!
Niemand weiß, wie die Entscheidungen der Männer ausgefallen wären, wenn die Frage umgekehrt gestellt worden wäre. Wenn diejenigen hätten hervortreten sollen, die die Erschießung durchführen wollten. Wie sich im Verlauf des Massakers herausstellte, fühlte sich eine größere Zahl der Polizisten ihrer Mörderaufgabe nicht gewachsen, als sie sie tatsächlich vollzog. Aber dass viele es abgelehnt hätten mitzumachen, konnte sich Trapp nicht leisten. Stattdessen konnte er stillschweigend darauf setzen, dass nur die wenigsten sich im Angesicht ihrer Kameraden dem Auftrag entziehen würden.
Für Browning ist der gruppenpsychologische Prozess, der sich am frühen Morgen des 13. Juli 1942 vor Józefów abspielte, keine Ausnahme. Vielmehr ist er die hässliche Fratze eines Verhaltens, das sich in ähnlicher Form schon oft
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