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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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roten Ampeln brav und vorbildlich stehen blieben, im Dritten Reich auf unvorstellbar grausame Weise Menschen ermordeten.
     
    • Ganz normale Mörder. Auf dem Rangierbahnhof der Moral

Ganz normale Mörder
    Auf dem Rangierbahnhof der Moral
    Jedermanns privates Motto: Es ist besser, beliebt zu sein, als Recht zu haben.
    Mark Twain
     
     
    »In aller Frühe wurden die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 am 13. Juli 1942 aus ihren Pritschenbetten geholt. Befehle schallten durch das große Schulgebäude, das ihnen in der polnischen Stadt Bitgoraj als Unterkunft diente. Die Männer stammten aus Hamburg, waren Familienväter mittleren Alters und kamen aus proletarischen oder kleinbürgerlichen Verhältnissen. Da sie als zu alt galten, um noch für die deutsche Wehrmacht von Nutzen zu sein, waren sie zur Ordnungspolizei eingezogen worden. Die meisten von ihnen hatten in den von Deutschland besetzten Gebieten noch keine Erfahrungen gesammelt. Als neue Rekruten waren sie erst knapp drei Wochen zuvor in Polen eingetroffen.
    Es war noch ziemlich dunkel, als die Männer auf die wartenden Mannschaftslastwagen kletterten. An alle war zusätzliche Munition ausgegeben worden, außerdem hatten sie noch Munitionskisten auf die LKWs geladen. Die Polizisten waren zu ihrem ersten größeren Einsatz unterwegs, ohne bisher erfahren zu haben, was ihnen bevorstand.
    Die Bataillonslastwagen rollten im Konvoi aus Bitgoraj in die Dunkelheit hinaus nach Osten. Auf der holprigen Schotterstraße ging es nur langsam voran. So dauerte es eineinhalb bis zwei Stunden, bis sie ihr kaum 30 Kilometer entferntes Ziel erreichten: die Ortschaft Józefów. Als der Konvoi vor dem Ort hielt,
begann es gerade hell zu werden. Józefów war eine typische polnische Gemeinde mit bescheidenen, strohgedeckten weißen Häusern. 1800 Einwohner waren Juden.
    Im Ort war es völlig still. Die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 kletterten von ihren LKWs und sammelten sich im Halbkreis um Major Wilhelm Trapp, einen dreiundfünfzigjährigen Berufspolizisten, den seine Untergebenen liebevoll ›Papa Trapp‹ nannten. Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie von ihrem Kommandeur erfahren sollten, welchen Auftrag das Bataillon erhalten hatte.
    Trapp war bleich und nervös, hatte Tränen in den Augen und kämpfte beim Reden sichtlich darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das Bataillon stehe vor einer furchtbar unangenehmen Aufgabe, erklärte er mit tränenerstickter Stimme. Ihm selbst gefalle der Auftrag ganz und gar nicht, die ganze Sache sei höchst bedauerlich, aber der Befehl dazu komme von ganz oben. Vielleicht werde ihnen die Ausführung leichter fallen, wenn sie an den Bombenhagel dächten, der in Deutschland auf Frauen und Kinder niedergehe.
    Dann kam er auf die eigentliche Aufgabe zu sprechen. Die Juden hätten den amerikanischen Boykott angezettelt, der Deutschland geschadet habe, soll Trapp der Erinnerung eines beteiligten Polizisten nach gesagt haben. Zwei anderen zufolge soll er erklärt haben, dass es in Józefów Juden gebe, die mit den Partisanen unter einer Decke steckten. Das Bataillon habe nun den Befehl, diese Juden zusammenzutreiben. Die Männer im arbeitsfähigen Alter sollten dann von den anderen abgesondert und in ein Arbeitslager gebracht werden, während die übrigen Juden - Frauen, Kinder und ältere Männer - vom Polizeibataillon auf der Stelle zu erschießen seien. Nachdem Trapp seinen Männern auf diese Weise erklärt hatte, was ihnen bevorstand, machte er ein außergewöhnliches Angebot: Wer von den Älteren sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne beiseitetreten.« 1
    Die Ereignisse um das Massaker von Józefów gehören zu den
bestuntersuchten Verbrechen der Shoa. Der US-amerikanische Historiker Christopher Browning (*1944) von der University of North Carolina in Chapel Hill schrieb ein ganzes Buch nur über das Reserve-Polizeibataillon 101. Er wollte eine Antwort auf eine Frage, die ungeheuerlich, verstörend und beunruhigend war: Wie konnte es passieren, dass ganz normale Männer ein so fürchterliches Verbrechen begehen konnten wie den Judenmord von Józefów?
    Nachdem Trapp seine Ansprache beendet hatte, trat ein Mann vor und gab seine Waffe ab. Der Hauptmann, aus dessen Kompanie er kam, bekam einen Wutanfall. Aber Trapp bedeutete ihm zu schweigen. Die Männer sahen, dass sie kein Risiko eingingen, wenn sie sich von dem Auftrag befreien ließen. Gleichwohl waren es nur zehn oder zwölf von fünfhundert,

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