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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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abgespielt hat und auch immer wieder geschehen kann. »In praktisch jedem sozialen Kollektiv übt die Gruppe, der eine Person angehört, gewaltigen Druck auf deren Verhalten aus und legt moralische Wertmaßstäbe fest. Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen?« 5
    Die Justitz, die nach dem Krieg über die Verantwortlichen des Polizeibataillons richtete, verfing sich hoffnungslos im Gewirr der Motive und Zuständigkeiten. Am Ende wurde überwiegend nach Hierarchie bestraft. Bataillonskommandeur Trapp wurde nach Polen ausgeliefert und nach einem Tag Verhandlung hingerichtet. 210 der ehemals 500 Angehörigen des Bataillons wurden zwischen 1962 und 1967 in Hamburg vernommen. Nur vierzehn
wurden angeklagt. Kein Beteiligter des Massakers von Józefów saß länger als vier Jahre im Gefängnis.
    So verbrecherisch die Taten des Polizeibataillons waren, so simpel scheint die Struktur, die aus ganz normalen Männern Massenmörder machte. Und so erschreckend es klingt: Der Druck zur Konformität kann in manchen Lebenssituationen ausschlaggebender sein als jeder andere soziale Instinkt und jeder grundsätzliche moralische Wert. 6
    Der Sozialpsychologe Harald Welzer (*1958), Professor am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, verdeutlichte dies in einem Seminar mit seinen Studenten. Er forderte sie auf, sich die Situation, in der die Männer des Bataillons nach Trapps Ansprache gewesen waren, zu vergegenwärtigen. 7 Welche Motive sprachen für das Vortreten und Sichverweigern und welche sprachen dafür, im Glied zu bleiben? Als nach einer mehrstündigen Diskussion das Pro und Contra zusammengetragen wurde, ergab sich ein verstörendes Bild. Für das Vortreten fanden die Studenten nur drei Motive; »eine universalistische, philosophisch begründete Ethik, die das Töten grundsätzlich ablehnt, und eine christlich geprägte Moral, die das Töten verbietet, drittens so etwas wie eine antizipierte Empathie den Opfern gegenüber - und nach allem, was man weiß, sind derlei Haltungen und Orientierungen nur in seltenen Ausnahmefällen geeignet, gewaltsame Handlungen zu inhibieren (Einhalt zu gebieten), weshalb es übrigens auch im Zivilleben vorkommen soll, dass Pastoren ihre Ehefrauen erschlagen. Das Vorhandensein ethischer Grundüberzeugungen schließt ihre Verletzung nicht aus.« 8
    Man muss den leichten Zynismus, der in Welzers Aussage liegt, nicht teilen. Das dritte Motiv - »so etwas wie eine antizipierte Empathie« - kommt bei Welzers Liste ziemlich schwach daher. Tatsächlich aber gibt es in normalen Situationen bei den meisten Menschen einen sehr starken Instinkt, andere Menschen nicht zu töten. Ganz besonders keine Kinder und Kleinkinder. Dieser Instinkt lässt sich, wie gesehen, außer Kraft setzen. Aber er ist
gleichwohl ein Teil unserer natürlichen Ausstattung als Mensch (von der Welzer sich und andere glauben machen möchte, dass es sie gar nicht gibt. Für ihn ist der Mensch »von Natur aus« nichts).
    Auch die Schlussfolgerung, dass uns ethische Grundsätze »nur in seltenen Ausnahmefällen« davon abhalten, anderen Gewalt anzutun, ist etwas eilig. Denn wie wollen wir das eigentlich beurteilen? Wer kann schon von sich selbst immer genau sagen, was an seinem Verhalten Grundsatz ist und was Intuition? Kann sich das eine nicht über die Jahre und Jahrzehnte untrennbar mit dem anderen vermischen, wie Aristoteles hoffte? Die »Haltung«, die wir in einer moralischen Frage einnehmen, ist fast immer ein Mischprodukt.
    Das Spannende an Welzers Liste ist nicht die etwas dünne Zusammenstellung der Motive für das Vortreten. Es ist die in der Tat beeindruckend lange Liste der Motive, die dafür sprechen, im Glied zu bleiben. 9 Denn wer ausschert, verhält sich nicht konform. Er verletzt Gruppennormen und Loyalitätsverpflichtungen gegenüber Vorgesetzten, Kameraden, vielleicht sogar Freunden. Er isoliert sich von der Gruppe und zeigt sich, je nach Interpretation, als feige, schwach oder gar als überheblich. In den Augen der anderen erzielt man keine Anerkennung (das, wonach wir alle streben), sondern man verliert an Achtung. Selbst wenn der Schritt nach vorn, dem Versprechen Trapps zufolge, keine unmittelbaren negativen Folgen hat, so hat er doch sicher langfristige. Man ist das Kameradenschwein, das sich damals gedrückt hat.
    Der Nazimoral zufolge ist der Judenmord zudem eine

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