Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
hat. Die Befragten sollten sich vorstellen, sie stünden an einem Eisenbahngleis. Vor ihren Augen rollt ein führerlos gewordener Waggon heran. Wenn nichts passiert, fährt der Wagen geradeaus weiter und überfährt fünf Gleisarbeiter. Doch Sie können es verhindern! Wenn Sie die Weiche unmittelbar vor Ihnen umstellen, dann wird der Zug umgeleitet auf ein Nebengleis und überfährt dort nur einen Gleisarbeiter. Was würden Sie tun? Drei Viertel der Befragten in aller Welt antworteten, dass sie die Weiche umstellen würden. Denn fünf Menschenleben waren ihnen im Zweifelsfall mehr wert als eines.
An der Richtigkeit dieses Ergebnisses besteht kein Zweifel. Auch ich habe die Eisenbahnfrage inzwischen mehr als hundertmal gestellt. In verschieden Städten Deutschlands von Wilhelmshaven bis Singen, von Düsseldorf bis Cottbus. In Buchhandlungen und in größeren Sälen mit vielen hundert Menschen. Und das Ergebnis war fast immer das gleiche: Drei Viertel der Befragten würden die Weiche umstellen. Und nur ein Viertel würde es nicht tun. Das
Ergebnis änderte sich freilich schlagartig, wenn ich die Befragten aufforderte, ein Detail auszutauschen. Auf dem Gleis geradeaus befinden sich noch immer die fünf anonymen Gleisarbeiter. Aber auf dem Nebengleis steht niemand Unbekanntes, sondern dort spielt Ihr Kind! Wer würde nun den Weichenhebel umstellen, so dass statt der fünf Gleisarbeiter das eigene Kind stirbt? Wo auch immer ich die Frage gestellt habe, das Ergebnis war - niemand!
Deutlicher kann man sich den Unterschied zwischen einer allgemeinen Vernunftmoral und unserem subjektiven Moralempfinden kaum vergegenwärtigen. Zwar sind wir vermutlich alle der vernünftigen Einsicht, dass jedes Menschenleben prinzipiell gleich viel wert ist. Aber eben - nur prinzipiell. Tatsächlich machen wir sehr große Unterschiede zwischen dem Lebenswert von Menschen, die uns nahestehen, und jenen, die es nicht tun.
Kants kategorischer Imperativ, wonach unser moralisches Handeln immer darauf zielen soll, allgemeingültig zu sein, wird in der Realität durch unsere sozialen Instinkte unterlaufen. Und so richtig und überzeugend der kategorische Imperativ als Idee ist, so wenig hat er mit unserer alltäglichen Lebenspraxis zu tun. In einer schönen Formulierung Peter Sloterdijks: »Der Gebrauchswert des kategorischen Imperativs liegt in seiner Erhabenheit, die seine Unanwendbarkeit sicherstellt.« 4
Wenn wir andere Menschen moralisch bewerten, so messen wir mit unterschiedlichem Maß. Und nicht die Vernunft spricht unser Urteil, sondern häufiger die Sympathie. Der evolutionäre Psychologe und Wissenschaftspublizist Eckart Voland (*1949), Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen, spricht in diesem Zusammenhang gerne von Doppelmoral: »Moral unterscheidet immer zwischen denen, die dazugehören, und den anderen. Sie ist strukturell immer Doppelmoral.« 5
Hat Voland Recht? Versuchen wir uns darüber klarzuwerden, was Doppelmoral bedeutet. Gemeinhin verstehen wir darunter, dass jemand das eine predigt und das andere tut. Ein christsozialer Politiker, der öffentlich den unantastbaren Wert der Ehe und
der Familie proklamiert und heimlich eine uneheliche Beziehung hat, erscheint uns als Doppelmoralist. Doch kann man den Begriff grundsätzlich auf all unsere Moral anwenden? Sicher, wir ziehen unsere eigenen Kinder anderen vor. Aber heißen wir es nicht dennoch gut, dass der Lehrer in der Schule sie prinzipiell gleich behandelt wie die anderen Kinder? Möglicherweise wäre es uns sogar unangenehm, wenn er sie deutlich bevorzugen würde. Mit dem Grundsatz »das eine predigen und das andere tun« hat das nicht viel zu tun. Doppelmoral dagegen wäre, die Fahne der Gleichheit und der Demokratie hochzuhalten und gleichzeitig zu erwarten, dass auch andere unsere Kinder vorziehen.
Dass wir uns nahestehende Menschen anders bewerten als Fremde, ist ein natürlicher Instinkt. Den Begriff »Doppelmoral« dafür zu verwenden aber ist irreführend. Wenn wir bei unseren Kindern mit zweierlei Maß messen, handeln wir nicht gegen eine erklärte Überzeugung. Denn wer würde bestreiten, dass seine Kinder, Eltern und Freunde für ihn nicht das Gleiche sind wie fremde Menschen?
Auch unsere Nachrichtensendungen in Fernsehen und Radio funktionieren nach diesem Prinzip. Ihre engste Gruppe ist - je nach Reichweite - die Region oder die Nation. Fast allesamt funktionieren sie nach dem Methusalix-Prinzip: wir, die anderen und die ganz anderen. Erst kommen
Weitere Kostenlose Bücher