Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
Vom Netzwerk:
Welt keine Mitglieder.
    Die Pointe daran ist in etwa die: Man kann einige Menschen lieben und hochschätzen, die man kennt. Und man kann die Idee lieben und hochschätzen, alle Menschen hochzuschätzen. Aber alle real lebenden Menschen lieben und hochschätzen kann man nicht. Selbst die Religionen, die sich die Nächstenliebe auf die Fahne schreiben, wie das Christentum, schließen traditionell Menschen aus diesem Kreis aus - im Regelfall die Ungläubigen! Und je stärker eine Religion mit unmenschlichen, weil unrealistischen Geboten befrachtet ist, umso aggressiver tritt sie gemeinhin gegenüber anderen auf. Was man seinen Gemeindemitgliedern an Überforderung abnötigt, holen diese sich oft genug durch Arroganz gegenüber anderen wieder. Nicht immer verhalten sich religiöse und auch andere ideologische Eliten, Sekten und Bruderschaften nach diesem Prinzip - aber, wie es scheint, erschreckend oft. Und selbst viele Cliquen unserer Jugendlichen funktionieren nach diesem Muster. Altruismus ist eine begrenzte Ressource, die sich nicht immer und überall verteilen lässt. Wer immer und überall gut zu allen ist, ist schlecht zu sich selbst.
    Um diese Logik zu erklären, gibt es heute ein ziemlich schlichtes biologisches Modell. Danach ist die Ablehnung anderer Gruppen der evolutionäre Kampfpreis, um dessentwillen sich
unsere Kooperationsfähigkeit entwickelt hat. 3 Diese Theorie von Samuel Bowles ist zurzeit sehr in Mode. Doch ihre Grundlage ist völlig spekulativ. Anders als etwa Jürg Helbling nimmt Bowles an, dass unsere Vorfahren über alle Zeiten in heftige Kriege verstrickt waren. Er verweist auf die Funde von zerborstenen Schädeln und gebrochenen Armknochen. Doch müssen sie tatsächlich ein Resultat von Kriegen zwischen Gruppen und Kulturen sein? Reicht dafür nicht der ganz gewöhnliche Mord und Totschlag innerhalb einer Gruppe? Einem vor 10 000 Jahren zertrümmerten Schädel ist es nicht anzusehen, ob ihn die tödliche Axt eines Kumpanen traf oder eines Fremden und ob es sich um eine private Fehde handelte oder um einen Krieg.
    Im zweiten Schritt spekuliert Bowles, dass es unseren Vorfahren nicht nur viele soziale Vorteile brachte, wenn sie untereinander kooperierten, sondern auch einen militärischen. Wer gut zusammenhält, der kann auch leichter fremde Territorien erobern, neue Weibchen schwängern und seine kriegerischen Gene weitergeben. Bowles verwendet dafür ungezählte Computersimulationen. Doch was er beweisen will, ist nicht eine völlig neue Theorie der menschlichen Kultur, sondern das alte Weltbild der evolutionären Psychologen wie Lorenz oder Ghiselin.
    Der Erklärungswert von Computermodellen für menschliches Verhalten ist begrenzt. Und er wird gegenwärtig von vielen Forschern wohl stark überschätzt. Tatsächlich bleibt der direkte und notwendige Zusammenhang von Altruismus, Parochialität und Krieg nach wie vor eine sehr vage Spekulation. Denn sollte diese Dreieinigkeit eine feste Regel unserer Kultur sein, so fragt sich, warum es so viele Ausnahmen gibt. Was ist mit jenen Völkern, die mehr interne Kriege führen als gegen andere Völker? Und was läuft bei friedlichen Kulturen schief?
    Wenn wir die Spekulation verlassen, so können wir etwas nüchterner festhalten: Die natürliche soziale Umwelt des Menschen ist seine Horde. Sie ist unsere emotionale Welt, der Ort der Liebe, des Hasses, der Verständigung, der Zusammenarbeit, des
Tauschs und Austauschs, der Fürsorge und des Mitgefühls. Was außerhalb dieser Reichweite liegt, nehmen wir nur entfernt wahr. (Während ich diese Sätze schreibe, blicke ich aus dem Fenster auf die sonnenbeschienenen Häuser auf der anderen Seite der Straße. Ich kenne niemanden, der dort wohnt. Und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht besonders. Meine Welt ist zu klein, als dass sie sich beliebig erweitern ließe. Und die Pfarrgemeinde meines Mitgefühls bleibt überschaubar.)
    Die Reichweite unserer Sympathie und unserer moralischen Zuständigkeit gleicht einem Stein, den man ins Wasser wirft. Um die Stelle, wo der Stein eintaucht, entstehen Kreise, die sich weiter ausdehnen. Der innerste Kreis sind unsere nächsten Angehörigen. Oft identifizieren wir diese Gruppe, zum Beispiel die Familie, sehr stark mit uns selbst. Und der Gruppenrand wird gleichsam zu einer »zweiten Haut«.
    In meinem Buch Wer bin ich - und wenn ja, wie viele habe ich von einer Frage erzählt, die der Harvard-Psychologe Marc Hauser 300 000 Menschen in aller Welt gestellt

Weitere Kostenlose Bücher