Die Kunst, nicht abzustumpfen
bezeichnet, d. h. als Umkehr, Wandlung oder Wende.
Der Begriff der Wende wurde in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten missbraucht und banalisiert: Die Vereinnahmung der ehemaligen DDR durch die Bundesrepublik im Jahr 1991 war genau mit keiner wirklichen Veränderung verbunden, sondern war – aus westdeutscher Sicht – ein »Weiter-so-wie-Bisher«. Im Unterschied dazu geschieht jedoch im Prozess der Hoffnung eine tiefgreifende Veränderung unserer Vorstellungen von dem, was uns wichtig und was möglich ist. »Die gemeinsame Erforschung unserer tiefsten Ängste und Sehnsüchte in Bezug auf die Erde trägt den Keim einer umfassenden geistigen Erneuerung in sich (…) und führt uns an die Kraftquellen, aus denen wir zur Heilung der Welt schöpfen können.« (Macy 1988, 167+169). Sie mündet in ein Bedürfnis, sich konstruktiv für die Lösung der bestehenden Probleme einzubringen.
Wie oben mit Brueggeman (1978, 51) am Beispiel des Propheten Jeremia gezeigt wird, wirken verleugnete Schmerzen blockierend, während erst das Durchleben von Trauer – die ultimative Kritik – Neues ermöglicht. Nur durch Emotionen wird der Mensch zum Handeln bewegt, zur Aktion motiviert; dies ist im Grunde auch ihre Aufgabe. Das Wort Emotion kommt vom lateinischen Wort für Bewegung: »motion«. So auch unsere Gefühle über die Welt, wie etwa Angst, Wut, Abscheu, Empörung, Ohnmacht, Verzweiflung, Trauer, Mitgefühl, Scham oder Entsetzen: Sie sind eine psychische Energie, die uns dazu bewegen möchte, etwas gegen die katastrophalen Zustände in der Welt zu unternehmen, aktiv zu werden und Teil der Lösung zu werden.
Mit diesem Bedürfnis, »etwas« zu tun, müssen wir jedoch sorgsam umgehen. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich vielfach beobachtet, wie junge Menschen angefangen haben, sich für Frieden, Gerechtigkeit oder Naturbewahrung zu engagieren – um nach einigen Monaten oder Jahren enttäuscht zu werden, zu resignieren und in Pessimismus oder Zynismus zu verfallen. Dies ist verständlich, denn jedes Engagement ist unvermeidbar mit Enttäuschungen verbunden und das »tut weh. Manche flüchten in die Hoffnungslosigkeit. Sie erstarren in ›realistischer Depression‹ mit entsprechenden gesundheitlichen Schäden.« (Lukas 1997, 24). Nicht wenige ehemalige Kämpfer für soziale Gerechtigkeit endeten sogar bei der politischen Rechten (beispielsweise Mussolini). Um dies zu vermeiden, ist es wichtig, mit dem Bedürfnis »etwas« zu tun, achtsam umzugehen, es zu »pflegen«. Dies ist Gegenstand des zweiten Buchteils.
Zunächst eine kleine Übung: Wenn eine Meldung Sie in besonderer Weise berührt, dann nutzen Sie die damit verbundene Energie und gestalten diese aus. Zum Beispiel, wie bereits erwähnt, indem Sie zunächst alle Ihre Empfindungen und Gedanken zu der betreffenden Nachricht zu Papier bringen.
Wenn Sie den Eindruck haben, alles Wesentliche ausgedrückt zu haben, dann formulieren Sie daraus einen Brief an eine Person oder Institution, die Ihre Reaktion erfahren sollte, z. B. Ihre Zeitung oder Landtagsabgeordnete.
Welche Gedanken gehen Ihnen während dieser Übung durch den Kopf? Vielleicht denken Sie: »Was bringt das schon?« Oder Sie zweifeln: »Ich kann so einen Brief nicht schreiben.« Oder: »Davon versteh ich ja viel zu wenig.« Oder Sie sorgen sich: »Was werden die Nachbarn von mir denken, wenn mein Leserbrief in der Zeitung steht?!«
Es gibt sehr viele Bürger, die von solchen oder ähnlichen Gedanken geplagt werden. Und genau diese Zweifel sorgen dafür, dass sich große Teile der Bevölkerung nur wenig öffentlich zu Themen äußern, die doch für uns und für die Schöpfung von existenzieller Bedeutung sind. Anders als in undemokratischen Ländern (in denen mit Haft, Folter oder Tod bedroht wird, wer seine Meinung veröffentlicht) sind heute bei uns andere, subtilere Mechanismen am Werke, mit denen wir häufig uns selbst davon abhalten, unsere Meinungen in die Gesellschaft einzubringen. Einige dieser Blockaden möchte ich in den folgenden drei Kapiteln näher betrachten.
Dabei beziehe ich mich auf die Psychologie der Scham, einer der machtvollsten, oft übersehenen Emotionen. Scham ist sehr schmerzhaft, hat jedoch wichtige Funktionen: Scham, in gesundem Maße, ist »die Hüterin der menschlichen Würde« (Leon Wurmser) und reguliert das menschliche Miteinander. Ein pathologisches Zuviel an Scham jedoch blockiert die Entwicklung und vergiftet die zwischenmenschlichen Beziehungen.
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