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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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Schweigen das Problem nur noch verschärft, da es von Heranwachsenden möglicherweise als Gleichgültigkeit erlebt wird (»unsere Zukunft ist Euch doch egal«) und Entfremdung, Zynismus und Wut hervorrufen kann. Vielleicht geht manche Verachtung und Gewalt junger Menschen – z. B. Punks mit ihrem demonstrativ provokanten Aussehen – letztlich auf den heuchlerischen bis zynischen Umgang vieler Erwachsenen mit schwerwiegenden Informationen zurück (Macy 1988, 75)? Denn ist es nicht zynisch, wenn wir Erwachsenen den nach uns Kommenden eine katastrophale Zukunft hinterlassen, von der wir profitiert haben, ohne dass wir entschieden dagegensteuern (Kurz 1989, 26f.)?
    Joanna Macy (1988, 76ff.) gibt elf Hinweise für Gespräche mit Kindern und Jugendlichen über ihre Schmerzen über die Welt:
Teilen Sie zuallererst die Freude am Leben mit Ihren Kindern, etwa indem sie gemeinsam Samen aufziehen oder einen Käfer beobachten. Denn die Welt ist, trotz aller Gefahren, auch kostbar und erhaltenswert.
Zeigen Sie Ihren Kindern, dass Sie sich selber für eine gelingende Zukunft engagieren. Verschiedene Untersuchungen zeigten, dass Kinder von politisch engagierten Eltern (z. B.
in der US-Bürgerrechtsbewegung) psychisch gesünder und stabiler sind als Kinder nicht engagierter Eltern.
Erkennen Sie zunächst Ihre eigenen Gefühle über das, was in der Welt passiert, z. B. durch Teilnahme an einem Workshop mit gleichgesinnten Eltern. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Gespräche mit Kindern dazu missbraucht werden, die eigenen Gefühle zu erforschen.
Laden Sie Ihre Kinder dazu ein, ihre Emotionen über die Welt mitzuteilen, z. B. indem Sie beim Fernsehen zunächst Ihre eigenen Gefühle anlässlich einer Nachricht aussprechen (dabei sollten Sie jedoch nicht die Kinder mit Ihren eigenen Emotionen überschütten).
Hören Sie Ihrem Kind aufmerksam zu; tun Sie zwischendurch nichts anderes und nehmen Sie sich Zeit, auch zum Schweigen. Erzwingen Sie nichts, denn jedes Kind hat das Recht, über solche schwerwiegenden Themen auch nicht zu sprechen.
Helfen Sie den Kindern, ihre Gefühle klar zu bekommen; viele Menschen wissen erst, was sie fühlen, wenn sie es aussprechen können.
Lassen Sie Ihre Kinder wissen, dass sie mit ihren Ängsten nicht alleine sind. Erzählen Sie z. B., wie erschrocken Sie selbst waren, als Sie von Hiroshima erfuhren.
Geben Sie zu, wenn Sie etwas nicht wissen (das ist bei den komplexen Weltproblemen unvermeidbar). Dies gibt den Kindern Vertrauen in das Wissen, das Sie besitzen und ist Anreiz für Sie, sich weitergehend zu informieren, um Ihre Wissenslücken zu beheben.
Versuchen Sie nicht, Ihren Kindern die schmerzhaften Gefühle abnehmen zu müssen (»Macht Euch keine Sorgen!«), denn es sind ihre Gefühle, die im Kern berechtigt sind. Aber Sie können unnötige Sorgen und Missverständnisse ausräumen (z. B. dass der Junge nebenan keine Atombombe zu Hause hat).
Unterstützen Sie Ihre Kinder darin, eigene Entscheidungen zu treffen, solange sie sich damit nicht schaden. Das hilft
ihnen, ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu spüren und zu entwickeln.
Unterstützen Sie Ihre Kinder, wenn sie selbst aktiv werden wollen (was nicht bedeutet, sie für Ihre eigenen Ziele zu benutzen). Kinder können sich in vielfältiger Form engagieren; dies steigert ihre Selbstachtung (die viele Erwachsene verloren haben), gibt ihnen Gemeinschaftsgefühl und verringert ihre Ohnmacht vor der Zukunft.
    Grundsätzlich ist allerdings – in der Arbeit mit Kindern wie mit Erwachsenen – das Recht der Mitmenschen anzuerkennen, auch nicht »wissen« zu wollen. Dies mag vielleicht schwerfallen, wenn wir selbst von einer Nachricht besonders tief berührt wurden und es uns ein Anliegen ist, andere dafür zu interessieren. Diese respektvolle Haltung möchte ich – zum Abschluss des ersten Teils – mit einer Geschichte von Leo Tolstoi (1997) illustrieren.
     
    Als die Wahrheit verstummte:
    »Was wäre die Welt ohne mich! Erst durch mich wird das Leben lebenswert!« rief die Wahrheit, warf sich in die Brust und schritt stolz durch Städte und Dörfer, um auf dieser Erde dem falschen Schein, der Lüge, dem Trug den Kampf anzusagen.
    Die Wahrheit kam in eine kleine Straße und sah, wie eine Anzahl Kinder um ein Märchenbuch herumsaßen. Ein Kind las vor von Prinzen und Riesen und Zwergen und Kobolden, und aller Augen glänzen.
    »Was in diesem Buche steht, ist alles Erfindung und Lüge!« rief die Wahrheit. Da schwand plötzlich alle

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