Die Kunst, nicht abzustumpfen
Daher ist es für die Heilung des Einzelnen wie auch der Gesellschaft außerordentlich fruchtbar, sich mit Scham bewusst auseinanderzusetzen und sie zu transformieren in die Befähigung zur Menschenwürde (dies habe ich an anderer Stelle ausgeführt, Marks 2010 + 2011b). Der Begriff der Scham bezeichnet genauer betrachtet eine Gruppe von Emotionen. Drei davon sind für die folgenden Kapitel von Bedeutung.
2. Angst vor Ausgrenzung
Schamgefühle können zurückbleiben, wenn wir uns »daneben benommen« oder etwas »Peinliches« getan haben und daraufhin von anderen als »komisch«, »verrückt« oder »anders« verspottet, scheel angesehen oder ausgegrenzt werden. Diese Ausprägung von Scham (»Anpassungs-Scham«, Marks 2011b, 14ff.) entzündet sich an der Differenz zwischen dem, der ich bin und dem, der »man« nach Ansicht seiner Mitmenschen sein sollte. Sie wird ausgelöst, wenn »man« die Erwartungen und Normen der Mitmenschen nicht erfüllt.
Worin jedoch diese Erwartungen und Normen bestehen, hängt jeweils ab von der Herkunftsfamilie, der Umgebung und der Gesellschaft, in der wir leben. Traditionell wurden in Deutschland abweichende Meinungen und nonkonformes Verhalten brutal geahndet: Folter, Hinrichtungen, öffentliche Beschämungen (z. B. Pranger) und Ausgrenzungen (z. B. Ächtung, Landesverweis) waren über Jahrhunderte wesentliche Herrschaftsinstrumente; vom Mittelalter bis zur Neuzeit, dann wieder im Nationalsozialismus. Und etwas davon wirkt, in subtilen Ausprägungen, noch in den Beschämungen, Ausgrenzungen und im Mobbing nach, die bis heute das Klima in manchen Klassenzimmern, Ausbildungsbetrieben, Hochschulen und Firmen vergiften (Marks 2010).
Wer eine eigene Meinung hat oder einen abweichenden Lebensstil lebt, der soll sich schämen und muss damit rechnen, beschämt, verspottet, verhöhnt, bloßgestellt oder ausgegrenzt zu werden. So wurde über Generationen eine abgrundtiefe Angst in unsere Seelen gebrannt. Die Angst davor, uns mit dem, was uns wichtig ist, in die Gesellschaft einzubringen: »Was sollen die Leute denken?« Diese Sorge kann dazu führen, dass eigene Meinungen und Lebensäußerungen begraben werden, ehe sie ausgearbeitet und in die Welt getragen wurden.
Tatsächlich können durch Beschämungen oder Ausgrenzungen dieselben Gehirnregionen aktiviert werden wie in Situationen, in denen wir existenziell in unserem Überleben bedroht sind (Nathanson 1987; Schore 1998). »Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit, vor psychischer Vernichtung.«, so Peer Hultberg (1987, 92). Daher ist diese Scham eine der machtvollsten Blockaden, mit der wir uns oft selbst daran hindern, uns mit unseren politisch bedeutsamen Emotionen und Meinungen in der Gesellschaft präsent zu machen.
Soweit die Blockierung, die ein pathologisches Zuviel an Anpassungs-Scham bewirken kann. Ein gesundes Maß dieser Scham hat jedoch positive Aufgaben. Es sorgt z. B. dafür, dass wir einen Affekt oder einen Gedanken nicht einfach spontan in der Öffentlichkeit »ausspucken« (worüber wir uns später vielleicht schämen müssten), sondern (um auf das Beispiel des Briefes an die Zeitung oder Abgeordnete zurückzukommen) dass wir uns sehr gründlich überlegen, was und wie wir schreiben. Dass wir uns sachkundig machen, um unser Argument möglichst gut zu begründen; dass wir so lange an den Formulierungen herumfeilen, bis das Schreiben klar, bestimmt und zugleich respektvoll ist.
So kann uns ein gesundes Maß an Anpassungs-Scham dazu motivieren, den Brief so sorgfältig auszuarbeiten, dass wir am Ende stolz auf unser Werk sein können. Denn auch dies ist ein menschliches Grundbedürfnis: uns in die Welt einzubringen, jede/r nach ihren/seinen Fähigkeiten,
Einen politischen Brief auszuarbeiten erfordert geistige Anstrengung und Übung; dies sollte schon in der Schule eingeübt werden. Dies wird durch manche Lehrpläne durchaus ermöglicht; dies kann hier nur exemplarisch skizziert werden: z. B. sollen Gymnasiasten in Baden-Württemberg Methoden erlernen, um Veränderungen zu bewirken; Diskussionen, Streitgespräche und Debatten auszutragen sowie »Texte und Materialien, die der politischen Teilhabe dienen, zu erstellen (zum Beispiel Leserbriefe, Flugblätter).« Ministerium 2004)
3. Zweifel an den eigenen Fähigkeiten
Mancher Brief an Zeitung oder Politiker bleibt aus anderen Gründen ungeschrieben; etwa wenn jemand von sich denkt: »Ich kann so was nicht, ich kann keine Leserbriefe schreiben.« Viele Menschen
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