Die Kunst, nicht abzustumpfen
zweifeln an ihren eigenen Fähigkeiten; auch hier kann ein blockierendes »Zuviel« an Scham zugrunde liegen.
Über Jahrhunderte wurde den Menschen – vor allem durch eine lebensfeindliche Interpretation des Christentums und eine »schwarze Pädagogik« – eingeimpft, dass sie von Grund auf schlecht (»Erbsünde«), unwürdig und unfähig seien. Sie wurden dazu angehalten, sich unterwürfig und klein zu machen. Dies hat zur Folge, dass viele Menschen ihr »Licht unter den Scheffel stellen«:
Wie viele Bilder wurden nie gemalt, weil Menschen von sich denken: »Ich bin ja nicht kreativ«! Wie viele Geschichten oder Gedichte wurden nie zu Papier gebracht, weil Menschen von ihrer Unbegabtheit überzeugt sind und befürchten, ausgelacht zu werden! Wie viele Klänge und Melodien konnten nie gehört werden, weil ihre Schöpfer die verächtlichen Kommentare von Mitmenschen befürchten und sich hinter der Meinung verschanzen: »Ich bin ja nicht musikalisch«! Wie viele Meinungen werden nicht öffentlich vertreten, weil Menschen sich sagen: »Dazu bin ich nicht intelligent genug, nicht gebildet genug.« (Weber 2010, 31)
Der Sozialpsychologe Harald Welzer sieht eine »riesige Illusionsmaschine« am Werk, in der diverse Akteure, sogenannte »Experten«, auftreten und vermitteln, sie verstünden besser als alle anderen, was in der Welt vor sich gehe. Dadurch soll das Gros der Bevölkerung »der Suggestion erliegen, sie hätten keine Möglichkeit, in die Ereignisse einzugreifen« (Weber 2011, 30).
Diese »Illusionsmaschine« wird durch eine Ausprägung von Scham unterstützt, die als »Intimitäts-Scham« bezeichnet
wird (Marks 2011b, 27ff.). Diese hat die Funktion, unsere Grenzen zu wahren: das, was uns wichtig ist – unsere intimen Körperregionen, aber auch unsere persönlichen Gedanken, Gefühle, Fantasien und Kreativität – vor den Blicken und Bewertungen anderer zu schützen. Ein Übermaß dieser Scham kann jedoch dazu führen, dass Lebensäußerungen schon abgewürgt werden, ehe sie überhaupt erprobt werden konnten. Etwa wenn die Botschaft lautet: Nur wer perfekt ist und absolute Spitzenleistungen bringt, nur wer »Experte« ist, darf sich in die Öffentlichkeit wagen; nur dann ist er oder sie davor gefeit, verhöhnt zu werden.
Ein gesundes Maß dieser Scham ist jedoch hilfreich, indem sie uns dabei unterstützt, unsere je individuellen Grenzen zu erkennen; beispielsweise wahrzunehmen, auf welchen Gebieten wir jeweils begabt sind und auf welchem nicht. Wenn jemand von sich sagt: »Ich bin nicht gut im Briefeschreiben«, dann mag dies für manche Personen eine durchaus realistische Selbsteinschätzung sein. Tatsächlich gibt es noch viele andere Möglichkeiten, seine gesellschaftlich bedeutsamen Gedanken und Gefühle in die Gesellschaft einzubringen.
Im Laufe unserer Geschichte haben sich gewisse Vorstellungen von »Politik« etabliert, die mir recht eindimensional zu sein scheinen. Demnach erschöpft sich »politisches Engagement« im Bewusstsein vieler Menschen darin, für ein politisches Amt zu kandidieren bzw. zu wählen, Briefe zu schreiben, an einer Massendemonstration, Kundgebung oder Streik teilzunehmen sowie Unterschriften zu sammeln, Punkt.
Die Konsequenz daraus ist, dass viele Bürger Politik als etwas Langweiliges empfinden und Gemeinschaftskunde zu den unbeliebtesten unter den Schulfächern zählt. Eine weitere Konsequenz ist, dass die Wahlbeteiligung erstaunlich gering ist (sie lag z. B. bei den baden-württembergischen Landtagswahlen im März 2011 bei mageren 66 Prozent).
Dieses eher »flache« Verständnis von Politik wird auch
durch einen traditionellen Kunst-Begriff unterstützt, wonach sich Kreativität lediglich in den Werken »richtiger«, anerkannter Künstler zeige, aber nichts mit Politik zu tun habe. In den vergangenen Jahrzehnten ist jedoch in verschiedenen Ländern zu beobachten, dass sich Menschen in immer fantasievolleren Formen in die Politik einmischen: bunter, lebendiger, sinnlicher, origineller. »Fantasie an die Macht«: so lautete ein Slogan des Künstlers Pierre Soulages, mit dem er den Aufstand der Pariser Studenten im Mai 1968 unterstützte. Immer mehr Künstler der Avantgarde nehmen am Geschehen ihrer Zeit teil – vor allem seit Pablo Picasso (er entwarf 1949 das Plakat für den ersten internationalen Friedenskongress mit dem Motiv der Taube). Sie zeichnen, malen, dichten oder komponieren für die Entrechteten, für die Menschenrechte und Bewahrung der
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