Die Kunst, nicht abzustumpfen
Anhänger
des Nationalsozialismus nach Kriegsende ihr Engagement für Hitler und das »Dritte Reich« zu rechtfertigen suchten: man habe doch »nichts gewusst« (Marks 2011a).
Etwas ist grundlegend falsch mit der Art und Weise, wie wir mit dem »Rest der Welt« und den Generationen nach uns umgehen. Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler (2007) bezeichnet die globale Weltordnung als »Imperium der Schande.« Mein Eindruck ist, dass in unserer Gesellschaft massive Gewissens-Schamgefühle über diese Zusammenhänge bestehen, die jedoch verdrängt und abgewehrt werden. Etwa indem sie auf die Armen projiziert werden, die zynisch verachtet werden (»selber schuld«) oder durch rücksichtsloses Streben nach Erfolg, Macht und Besitz, wodurch der unheilvolle Teufelskreis von Scham und Konsumismus immer noch weiter angeheizt wird (Marks 2011b, 144).
Von dieser Scham kann man sich jedoch, so Cyrulnik (2011, 36) »befreien, indem man den Schwachen und den Unterdrückten zu Hilfe kommt.« Sich für Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung einzusetzen, trägt dazu bei, die eigene Integrität – und damit Würde – zu retten. Diese Arbeit ist sinnvoll; sie zu leisten ist ein Erfolg – ganz unabhängig davon, was das eigene Handeln am Ende bewirkt. Denn Sinn und moralisches Handeln lassen sich nicht nach der Logik von »Gewinnorientierung« bewerten. Fulbert Steffensky (2010, 53) plädiert dafür, die Frage nach dem Erfolg ganz zu vergessen, weil sie nicht beantwortbar ist: so »zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang« – dies sind wir unseren Nachkommen und uns selber schuldig. »Man entwürdigt sich und spricht sich selber Subjektivität ab, wenn man die Dinge zu ihrem Unglück treiben lässt. Wir ehren uns selber, indem wir uns als Handelnde begreifen; als Menschen, die die Fähigkeit und den Auftrag haben, das Leben zu schützen. Nicht allein der Erfolg rechtfertigt, was ein Mensch tut. Es gibt Handlungen, die in sich selbst gerechtfertigt sind.«
Ohne eine solche Umdefinierung dessen, was unter »Erfolg« zu verstehen ist, kann es meines Erachtens keine Hoffnung geben. Es dürfte kein Zufall sein, dass der verbreitete Mangel an Hoffnung in unserer Gesellschaft mit einem anderen Mangel einhergeht: Begriffe wie Integrität, Würde und Scham gelten weitgehend als »altmodisch« und sind z. B. in Medien, öffentlichen Diskursen und in der Forschung kaum ein Thema. Zu gleicher Zeit gehört es fast zum guten Ton, dass diejenigen Menschen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit oder Naturbewahrung engagieren, verhöhnt werden als »widerborstige Modernisierungs-Blockierer« (Bartsch u. a. 2010), »Jammerer« (Lohstroh / Thiel 2011) und »Gutmenschen« (Bittermann 1994). Ihnen wird unterstellt, »nur zur Gewissensberuhigung« zu handeln. Nur?
Tatsächlich ist die Sehnsucht nach Integrität und damit Würde ein menschliches Grundbedürfnis. Sie ist eine der machtvollsten Antriebe überhaupt, stärker als das Streben nach Geld oder kürzeren Arbeitszeiten. Vielleicht sogar stärker als Hunger, denn »ohne Brot kann der Menschen leben, aber nicht ohne Würde.« (Khadra 2006, 239)
Daher setze ich Hoffnung vor allem auf diejenigen sozialen Bewegungen, die aus dem menschlichen Hunger nach Würde erwachsen. Der Weg ist das Ziel: Ein solches Handeln ist immer erfolgreich, insofern es die selbstentwürdigende Haltung des »Man kann ja doch nichts ausrichten.« überwindet. Und so paradox das zunächst klingen mag: Ich habe oft die Erfahrung gemacht – und viele andere Engagierte haben dies bestätigt –, dass ein (äußerlich verstandener) Erfolg des eigenen Handelns sich umso eher dann einstellen kann, je weniger ich von Anfang an darauf abgezielt habe, in diesem Sinne erfolgreich zu sein.
Für Joanna Macy besteht wirkliche Freiheit darin, zu leben und zu handeln, »ohne vom Erfolg dieser Handlung abhängig zu sein.« Sie ermutigt die Menschen, darauf zu vertrauen, »dass Euer Engagement wirkt, auch da, wo Ihr die Wirkung (noch) nicht sehen könnt.« (zit. in Schellhorn 2010, 21). Denn meistens
entziehen sich die Auswirkungen unseres Handelns ohnehin unserer Wahrnehmung. So können wir nie wissen, was z. B. ein politischer Brief bei einem Leser oder einer Leserin auslöst. Damit komme ich zur Übung am Anfang des zweiten Teiles dieses Buches zurück:
Darin hatte ich Sie angeregt, ausgehend von einer Nachricht, die Sie in besonderer Weise berührt, einen Brief an Ihre Zeitung
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