Die Kunst, nicht abzustumpfen
Schritt suchen Sie zunächst nach einem Standpunkt, von dem aus Sie einen Berg in der Ferne (oder einen kräftigen Baum, ein großes Gebäude oder dgl.) sehen können. Atmen Sie nun mehrere Male tief ein und aus. Dann stellen Sie sich fest hin, die Füße etwa schulterbreit auseinander. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Beine zu Wurzeln werden, die sich tiefer und immer tiefer in die Erde eingraben und ganz weit verzweigen. Wenn Sie sich in Ihrer Fantasie ganz
tief und fest in der Erde verwurzelt haben, strecken Sie Ihren rechten Arm aus und lassen ihn in Gedanken länger und immer länger werden: bis hin zum Berg (oder Baum …), an den Sie sich in Ihrer Vorstellung festklammern. Wenn Ihre Beine in der Erde fest verwurzelt sind und Ihr Arm mit dem Berg vereint ist, dann geben Sie B ein Zeichen. Nun versucht B, Ihren Arm zur Seite zu drücken, während Sie fest verwurzelt und eins mit dem Berg bleiben.
Anschließend wechseln Sie die Rollen. Danach tauschen Sie sich aus: Wie war die Erfahrung in den beiden Haltungen, und welche Unterschiede in der Muskelstärke hat der Partner dabei beobachtet?
In den meisten Fällen ist der Unterschied beträchtlich. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Menschen sehr viel stärker sind, wenn sie sich mit einem positiven Ziel identifizieren, welches sie im Blick behalten, an dem sie sich »festhalten«, auf das hin wir uns engagieren. »Ja!« zu sagen zu einem positiv definierten Ziel ist kraftvoller als sich in einem »Nein! Weg mit … ! Nieder mit …!« zu erschöpfen.
Diese Beobachtung ist auch für die politische Arbeit von großer Bedeutung. Aktionen und Kampagnen sind wesentlich wirkmächtiger, wenn sie von einer positiven Zielsetzung getragen sind, von einer Vision, nach der wir uns sehnen. Auch wenn es aktuell notwendig sein mag, negative Aussagen oder Zwischenziele zu formulieren (z. B. »AKW Fessenheim ausschalten!«), so sollte dieses »Nein« doch in einem letztendlichen »Ja« zum Leben gegründet sein. Hierzu ein Beispiel:
Der Flathead River ist ein Fluss von paradiesischer Schönheit; er mäandert durch die hügelige Prärielandschaft der Salish and Kootenai Indian Reservation im US-Staat Montana, vorbei an Pappelwäldchen und den eindrucksvollen Mission-Mountains im Hintergrund. Die Flussufer sind Zufluchtsorte für Adler, Biber, Schwarz- und Grizzlybären, Stachelschweine und viele andere Wildtiere.
Im Frühjahr 1986 wird publik, dass eine Elektrizitätsgesellschaft
plant, ein Wasserkraftwerk zu errichten und dazu den Flathead auf Dutzenden von Meilen aufzustauen. Damit wäre ein wunderschönes Stück Natur unwiderruflich zerstört. Eine Handvoll Bewohner aus der Reservation kommen zusammen, um zu versuchen, das Vorhaben zu verhindern. Stunde um Stunde diskutieren wir die ganze Palette der üblichen Protestformen – Demonstrationen? Protestplakate? Mahnwachen? Flugblätter? usw. –, sind aber mit allen Ideen nicht recht zufrieden. Alle diese Aktionen erscheinen uns als zu negativ; dies drückt sich auch in einer zunehmend gedrückten, lustlosen Stimmung in der Gruppe aus.
Während des Brainstormings entsteht plötzlich die Idee, die Schönheit des Flusses in den Mittelpunkt unserer Kampagne zu stellen. Mit neuer Energie gehen wir an die Planung einer Aktion, die auch im Einklang mit der Tradition der Stämme stehen würde: einem River Honoring, einer Ehrung des Flusses. Wenige Wochen später, an einem Wochenende im Juni, kommen viele Menschen aus der ganzen Reservation zusammen, um die Schönheit des Flusses zu feiern. In Schwitzhütten reinigen sich die Teilnehmenden auf traditionelle Weise; ein spiritueller Führer spricht ein Gebet; ein Büffel, gespendet von der Pine Ridge Indian Reservation in South Dakota, wird in einer Erdgrube gegart und beim Fest gemeinsam gegessen; gegen Abend wird getanzt zur Trommel einer indianischen Musikgruppe …
Der Bau des Kraftwerkes wurde verhindert!
Positive Ziele sind wichtig, weil Sehnsucht eine große Kraftquelle ist. Nach Ansicht des Neurobiologen Gerald Hüther (zit. in Laurenz 2010b, 50) zeigt sie uns, »wie es eigentlich sein sollte.« Zwar kann die Sehnsucht nach Menschlichkeit im Laufe eines Lebens verschüttet werden; vielleicht hat ein Mensch sich schon fast damit abgefunden, dass das Ersehnte unerreichbar ist. Und unerwartet stellt man plötzlich fest: »Da ist es ja! Es geht ja doch! In so einem Moment wird das Bild erschüttert,
das man von sich selbst gemacht hat« (Laurenz 2010b, 52), und der Mensch
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