Die Kunst, nicht abzustumpfen
ist gerührt; Tränen fließen, die Augen leuchten, die harten Umrisse des eigenen Ich werden weicher und machen Platz für etwas Größeres.
Hüther hält dieses Gefühl für sehr bedeutsam, weil es uns ermutigt, die Welt mit anderen Augen zu betrachten und uns noch einmal auf den Weg zu machen. Dabei kommt es im Gehirn zu einer wahren Kaskade von Reaktionen mit der Folge, dass bestimmte Zellen sich für Neues zu öffnen beginnen. Werden solche tiefen Gefühle geweckt, dann werden im Gehirn auch die emotionalen Zentren aktiviert und neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. »Diese haben die Eigenschaft, dass sie die nachliegenden Zellen so verändern, dass diese anfangen, neue Verbindungen herzustellen«, so Hüther (zit. in Laurenz 2010b, 52).
Es ist der große Verdienst von Ernst Bloch (1985), das reiche Füllhorn an Sehnsüchten, Wünschen, Bildern, Utopien und Visionen, die die Menschheit geschaffen hat, zusammengetragen und diskutiert zu haben. Diese sind nicht nur für das Individuum wichtig, sondern auch für eine Gesellschaft. Auch C. G. Jung unterscheidet zwischen »kleinen« und »großen« Träumen. Erstere sind für den Einzelnen relevant (und daher Thema in der psychotherapeutischen Arbeit), letztere jedoch sind bedeutsam für eine Gruppe, Gesellschaft oder die Menschheit. Sie gehen »über die persönliche Problematik des individuellen Träumers hinaus und sind der Ausdruck von Problemen, die in der ganzen Menschheitsgeschichte immer wiederkehren und das ganze Menschenkollektiv angehen. Sie haben oft prophetischen Charakter«, so die Jung-Schülerin Jolande Jacobi (1987, 75).
Alle Menschen können solche Träume haben, jedoch haben viele nicht gelernt, an ihre Vision zu glauben und diese zu entwickeln. So wie z. B. die junge Nonne, die in Kalkutta einen Orden gründen möchte, um den Sterbenden zu helfen: Als sie ihrem Bischof diese Idee vorträgt, lacht er sie aus. Die Nonne
bleibt jedoch ihrer Vision treu und wird später als Mutter Teresa bekannt.
Visionäre beschreiben die Quelle ihrer Inspiration mit Begriffen wie innere Stimme, Intuition oder Geistesblitz. Solche Erfahrungen sind freilich nicht »machbar«, sondern können sich ereignen: wenn das Bewusstsein zur Ruhe kommt (Ferguson 1990). In vielen Kulturen (z. B. bei nordamerikanischen Ureinwohnern) gibt es Rituale wie die Visions-Suche (»vision quest«), mit deren Hilfe ein Heranwachsender Visionen erfahren kann, die seine Person (z. B. seinen Namen) betreffen, unter Umständen aber auch das Schicksal des Stammes. In vielen Gesellschaften gibt es Seher (wie z. B. den blinden Teiresias in der griechischen Mythologie); von großer Bedeutung für die US-Bürgerrechtsbewegung war Martin Luther Kings großer Traum, der seiner berühmten Rede »I have a dream« zugrunde liegt (siehe Seite 28).
Demgegenüber ist es ein Anzeichen für die Krisenhaftigkeit einer Gesellschaft, wenn sich ihre Visionen in negativen Katastrophenszenarien erschöpfen und positive Visionen »unerwünscht« sind (wie Kessler [2011c, 26] heute beobachtet) oder verachtet werden: »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!« (Helmut Schmidt).
Im Alten Testament heißt es: »Ein Volk, das keine Vision hat, geht zugrunde.« (Sprüche 29,18). Gerade in Krisenzeiten, so Harald Welzer (2009, 133), zeigt es sich, wie fatal es ist, »wenn ein politisches Gemeinwesen keiner Idee folgt, was es eigentlich sein will. Gesellschaften, die die Erfüllung von Sinnbedürfnissen ausschließlich über Konsum befriedigen, haben in dem Augenblick, in dem mit einer funktionierenden Wirtschaft auch die Möglichkeit wegbricht, Identität, Sinn und Glücksgefühle zu kaufen, kein Netz, das ihren Fall aufhalten würde.« Nach Einschätzung des Konsumforschers Stephan Grünewald (zit. in: Müller / Tuma 2010, 65) leben wir »in einem visionären Vakuum und sind shoppend auf Sinnsuche.«
Die Kluft zwischen positiver Vision und der Banalität des
Shoppings wird in einer Aktion erlebbar gemacht, die für mich von geradezu prophetische Qualität ist: In der Fastfood-Zone eines vorweihnachtlichen Einkaufszentrums stehen nach und nach die Mitglieder eines Chores auf und singen das Halleluja aus Georg Friedrich Händels Oratorium »Der Messias«. Die Aktion wurde inzwischen in verschiedenen Einkaufszentren und Flughäfen wiederholt, sie ist auch im Internet zu sehen. (Alleluja 2010)
»Dagegen« oder »dafür«? Diese Frage ist von fundamentaler Bedeutung für die Vorstellungen, die wir uns von
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