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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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Informationen darüber, dass die Erde in einem katastrophalen Zustand ist, sind verfügbar und bekannt. Darüber informiert zu sein und dennoch nichts zu tun ist im Grunde eine Verletzung unserer eigenen Integrität und mit Schamgefühlen verbunden. Aus psychologischer Sicht sorgt die »Gewissens-Scham« dafür, dass wir unseren ethischen Werten und Idealen treu bleiben; sie ist die Hüterin unserer moralischen Integrität
(Marks 2011b, 33f.). Ein gesundes Maß dieser Scham bewirkt, dass wir uns so verhalten, dass wir uns künftig nicht vor uns selbst schämen müssen; dass wir uns selbst im Spiegel in die Augen schauen können, weil wir mit unserem Gewissen im Reinen sind.
    Menschen handeln ja nicht moralisch, weil sie das Strafgesetzbuch oder die Zehn Gebote auswendig gelernt haben: Du sollst nicht stehlen, nicht töten usw.. Vielmehr entwickelt sich das moralische Bewusstsein wesentlich aus frühen Erfahrungen von Schuld und Scham. Dazu ein einfaches Beispiel:
    Ein kleiner Junge hat etwas gestohlen; im Nachhinein schämt er sich dafür. Unter günstigen Umständen – etwa unterstützt durch ein vertrauensvolles Gespräch mit einem Mentor  – kann diese Scham zur Schuld-Einsicht und Reue sublimieren. So verändert sich der Heranwachsende (Tiedemann 2006); er wird fähig, dem geschädigten Mitmenschen seine Schuld und Reue einzugestehen, um Vergebung zu bitten und Wiedergutmachung anzubieten. Wird diese gewährt und angenommen, dann sind Täter und Opfer versöhnt und können ihre Beziehung neu beginnen.
    So wird durch die Gewissens-Scham, gerade weil sie so schmerzhaft ist, moralische Entwicklung und Versöhnung angestoßen. Im Rückblick sind es genau solche Erfahrungen, aus denen wir Menschen unsere Moralität aufbauen. Dies sind die Identitätsnarben, ohne die wir nicht die geworden wären, die wir heute sind, wie die Psychologen Fritz Oser und Maria Spychiger (2005) schreiben. Der Pädagoge Janusz Korczak (2001) ist sogar überzeugt, dass ein Kind, das niemals gelogen oder gestohlen hat, kein moralischer Mensch werden kann.
    Von einem solchen konstruktiven Umgang mit Schuld und Gewissens-Scham sind wir, die Bewohner der wohlhabenden »Ersten Welt«, in einer Hinsicht weit entfernt: Unsere Schuld gegenüber den Menschen in der sogenannten »Dritten Welt«, gegenüber der Mit-Schöpfung und gegenüber den kommenden Generationen ist so groß und unversöhnt, dass daneben
selbst die Verbrechen unserer Vorfahren während des Nationalsozialismus geringfügig erscheinen. Denn unser heutiger Wohlstand beruht zu großen Teilen auf der rücksichtslosen Zerstörung von Natur und der Lebenschancen der Menschen anderer Länder und kommender Generationen: Wir sind reich, weil sie arm sind bzw. arm sein werden.
    Um dies nur an einem Beispiel unter vielen zu illustrieren: Das radioaktive Plutonium ist so extrem giftig, dass theoretisch ein Kilogramm ausreichen würde, um die ganze Menschheit zu töten. Nichtsdestotrotz werden seit Beginn des Atomzeitalters ungezählte Mengen Plutonium produziert; allein die USA besitzen mehr als 100 Tonnen; in den Atomreaktoren der Welt entstehen jährlich ca. 20 weitere Tonnen (Rutherford 2012).
    Wie gedankenlos die Betreiber mit Plutonium umgehen, erwies sich z. B. 2009 im Atommüll-Lager Asse. Statt, wie angenommen, »nur« 9 Kilogramm lagern dort 28 Kilo Plutonium – die Differenz sei durch einen »Übertragungsfehler« zu erklären, erklärte das Bundesumweltministerium (dpa-Meldung vom 29.8.2009). Die Frage der Entsorgung dieses hochgiftigen Stoffes ist völlig ungelöst. Ungezählte Mengen an Plutonium sickern seit Jahrzehnten, Tag für Tag, in Erde, Grundwasser und Meere; sie verteilen sich über den Planeten und gelangen dadurch in die Nahrungskette. Die Halbwertszeit beträgt 24.000 Jahre; das bedeutet, dass nach 24.000 Jahren z. B. von den 28 Kilo Plutonium immer noch 14 Kilo übrig sein werden.
    So sind wir, Bewohner der »Ersten Welt«, durch unseren hohen Lebensstandard daran beteiligt zu stehlen, zu betrügen und zu töten – auch wenn dies zum Teil verborgen hinter scheinbaren »Sachzwängen« (»der Energiebedarf«) geschieht und mittels wirtschaftlicher und politischer Strukturen, die zu Lasten der Armen und der künftigen Generationen gehen. Über diese Zusammenhänge werden wir Tag für Tag informiert bzw. diese Informationen sind frei verfügbar. Nur: Wollen wir all das auch wirklich so genau wissen?
    Dies erinnert mich an die Argumente, mit denen viele

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