Die Kunst, nicht abzustumpfen
Größe« (um Missverständnisse zu vermeiden, schreibe ich im Folgenden von »Selbst-Verwirklichung«, wenn das Selbst in diesem Jung’schen Sinne gemeint ist): Das Selbst ist das Zentrum der Psyche und zugleich »Ziel des Lebens« (Jung 1928, 263): Vereinigung der Gegensätze, Ganzheit. Dieses Ziel wird durch den Prozess der Individuation oder Selbst-Verwirklichung angestrebt. Jolande Jacobi (1971, 150) schreibt: »Auf die Frage: ›Wer bin ich?‹ oder besser gesagt: ›Wer bin ich außer dem, was ich ohnehin von mir selber weiß?‹ versucht der Individuationsprozess eine Antwort zu geben.«
Durch Selbst-Erkenntnis und -Verwirklichung entsteht, so Jung (1928, 196), »ein Bewusstsein, das nicht mehr in einer kleinlichen und persönlich empfindlichen Ich-Welt befangen ist, sondern an einer weiteren Welt, an der Welt der Objekte teilnimmt. Dieses weitere Bewusstsein ist nicht mehr jener empfindliche, egoistische Knäuel von persönlichen Wünschen (…), sondern es ist eine mit dem Objekt, der Welt, verknüpfte Beziehungsfunktion, welche das Individuum in eine unbedingte, verpflichtende und unauflösbare Gemeinschaft mit ihr versetzt.«
Damit ist ein Mensch beschrieben, der in der inneren und zugleich in der realen, »äußeren« Welt steht, Verantwortung übernimmt und sich einmischt. Ein solches Selbst erlebt soziales oder politisches Handeln »nicht mehr als Gegensatz zur Selbstentfaltung, sondern als deren Ausdruck«, so der Sozialwissenschaftler Tilman Evers (1987, 229).
Symbolische Darstellungen des Selbst gibt es in vielen Kulturen, etwa Yin und Yang, Shiva und Shakti, Sonne und Mond, Hermaphrodit, Mandala oder Kugel. In der westlichen Welt jedoch wurde über Jahrhunderte, durch die vorherrschende Interpretation des Christentums, die Vereinigung der Gegensätze auf ein Jenseits vertagt. Demgegenüber galt die diesseitige Welt mit ihren Konflikten und Problemen als sündig, Anstrengungen zur Verbesserung des Lebens vor dem Tod als »eitel«. Diese Tradition trägt vermutlich mit zu der Verachtung bei, die bis heute oft den Menschen entgegengebracht wird, die sich für dies seitigen Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung engagieren (»Weltverbesserer«).
Eine Nachwirkung dieser Tradition ist auch die verbreitete Auffassung, wonach Selbst-Verwirklichung und politisches Engagement miteinander unvereinbar seien. Diese Meinung kommt in zwei Versionen:
Nach der einen müsse der Einzelne zuerst seinen »inneren Frieden« finden (z. B. durch Gebet, Meditation, Psychotherapie oder andere Methoden der Selbst-Erkenntnis).
Nach der anderen Meinung müsse als erstes die Gesellschaft verändert werden, weil es (nach einem vielzitierten Satz Theodor Adornos) »kein richtiges Leben im falschen« gebe.
Jede dieser Auffassungen hat eine gewisse Berechtigung, einerseits. So wäre ohne Zweifel schon viel geholfen, wenn möglichst viele Menschen ihren Hunger nach Sicherheit und Anerkennung bewusst machen und durcharbeiten würden, so dass sie diesen Hunger nicht länger in Wachstums-Gläubigkeit und Konsumismus ausagieren müssten. Aber haben wir noch so viel Zeit, bis – überspitzt formuliert – die ganze Menschheit auf der Couch ihre Neurosen kuriert hat?
Andererseits ist die Spaltung zwischen »innerem« und »äußerem Weg« auch problematisch, weil sie beide beschädigt zurückließ. Dies war z. B. nach der Jugendbewegung Ende der 1960er-Jahre zu beobachten:
So führte der eine Weg nicht wenige Angehörige der so genannten »68er-Generation« in Abhängigkeit von obskuren Sekten-Gurus in eine entpolitisierte Spiritualität und narzisstische Ich-Verwirklichung. Vehement kritisiert der Logotherapeut Manfred Schulz (2005, 141) diese Haltung: »Wenn wir nicht wissen wollen, wodurch das Elend in den armen Ländern entsteht, dann wissen wir auch nichts über uns.«
Demgegenüber führte der politische Weg teilweise in linken Terrorismus oder, als »langer Marsch durch die Institutionen«, zu einem erheblichen Verlust an politischer Fantasie und uninspirierte Politik.
Wenn wir jedoch die Idee von Ganzheit, die wesentlich zum Konzept des »Selbst« gehört, wirklich ernst nehmen, dann ist die Spaltung zwischen »innerem« und »äußerem Weg« auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Die Suche nach Ganzheit mündet dann auch in das Bedürfnis, beide »Welten« – innen
und außen – zu versöhnen, im Diesseits. Tatsächlich geht es heute um nicht weniger als das Ganze .
Gewiss ist die psychoanalytische Couch oder
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