Die Kunst, nicht abzustumpfen
Selbsterfahrungsgruppe ein Ort, um Aspekte seines Selbst zu erkennen und zu verwirklichen. Wer diese Arbeit auf sich nimmt, leistet – auf lange Sicht – einen unerlässlichen Beitrag für eine bessere Zukunft: Indem erlittene Gewalt- oder Missbrauchs-Erfahrungen aufgearbeitet werden, müssen diese nicht unbewusst wiederholt werden. Indem erlittene Entwürdigungen und die damit verbundenen Scham-Gefühle bewusst gemacht werden, müssen diese nicht transgenerational an die nächste Generation weitergereicht werden.
Aber wer das eine tut, muss das andere nicht lassen. Auch die Arbeit für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung kann ein Ort der Erfahrung und Verwirklichung von Selbst-Anteilen sein. Daher scheinen mir dies falsche Alternativen zu sein: entweder »innerer« oder »äußerer Weg.« Ich stelle mir die beiden »Wege« eher wie eine Polarität vor, vergleichbar mit Einatmen und Ausatmen. Für beides gibt es seine Zeit und es gibt Zeiten, in denen beides eins ist.
Beispiele für eine gelungene Verbindung von »innerem« und »äußerem Weg« sind etwa die Leipziger Friedensgebete und Montagsdemonstrationen. Ebenso die »Schweigestunde für den Frieden«, die seit den 1980er-Jahren in vielen Städten der Bundesrepublik durchgeführt wird.
Rolf Hannes (2009) schreibt: »Fußgängerzone in München, eine Gruppe Menschen mit einem Transparent: Schweigestunde für den Frieden. Jeden Freitag von 18 bis 19 Uhr. Wer dabei sein möchte, ist willkommen. Überparteilich. Eine Aufforderung, des Wahnwitzes eines Kriegs, aller Kriege zu gedenken. Einen Augenblick zögere ich, dann schließe ich mich der kleinen Gruppe an. Wir stehen im Kreis und geben uns die Hände, eine Stunde lang, die für mich, der ich mich den ganzen Tag durch diese Stadt quälte, die kurzweiligste ist. Gegen Ende war der Kreis so groß, dass er sich auflösen
musste in eine Kette, die eine große Strecke Straßenfront einnahm.
Wie merkwürdig, alle diese Menschen kennen einander nicht. Sie fassen sich an den Händen und stehen schweigend zusammen. Eine alte Frau mit Krücke, ein Backfisch, der vom Rad stieg, und ich konnte sehen, wie sich dieses Mädchen einen Ruck geben musste, in den Kreis zu treten. Ein Mann, der wie ein Gastarbeiter aussieht, ein junger Mönch, die weiße Kutte über Bluejeans.
Zu meiner Linken stand ein Mädchen, ich konnte deutlich spüren, wie seine Hand zitterte vor Erregung. Es kämpfte eine halbe Stunde lang gegen eine Ohnmacht, dann fiel es plötzlich vornüber. Ich fing es auf und legte es, so behutsam es ging, aufs Pflaster. Passanten bemühten sich um das Mädchen. Schließlich kam der Notarztwagen, und man lud es ein. Niemand begriff, was mit dem Mädchen wirklich war. Statt es still dort liegenzulassen, wurde es in ein Auto geladen.
Vielleicht hatte es zum ersten Mal solches erlebt: Dazustehen in einem Kreis von Menschen, die Energie, die durch einen fließt, das Angestarrt-Werden von Vorbeigehenden, das Bespöttelt-Werden, das Erkannt-Werden, das Einstehen für etwas, das sich sonst nicht vermitteln lässt. Das alles war so übermächtig, dass das Mädchen für einige Sekunden die Besinnung verlor. Aber für die Drumherumstehenden war es ein Unfall.«
Eine gelungene Verbindung beider »Wege« sind auch die Lebenswerke z. B. von Martin Luther King jr., Mahatma Gandhi (»ein Mensch, der behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, weiß nicht, was Religion bedeutet«), Dietrich Bonhoeffer (»Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen«) und Dorothee Sölle. Ebenso der buddhistische Mönch, Lyriker und aktive Gegner des Vietnam-Kriegs Thich Nath Hanh. Auch Thomas Merton, der christlicher Mystiker, engagierte sich gegen die atomare Aufrüstung und den Vietnam-Krieg, für die Bürgerrechtsbewegung und die Revolution in Nicaragua.
Ein weiteres Beispiel sind die Friedensmönche der Nipponzan-Myōhōji-Gemeinschaft, einer Richtung des japanischen Buddhismus in der Nichiren-Tradition. Die Gemeinschaft wurde von Nichidatsu Fujii unter dem Eindruck der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki gegründet. Ihre Mitglieder sind weltweit aktiv, indem sie Friedens-Pagoden bauen und während gewaltfreier Protestaktionen für den Frieden beten.
Mönche der Nipponzan-Myōhōji-Gemeinschaft wandern und beten seit Jahrzehnten auf vielen Kontinenten für den Frieden. Sie nahmen an der Belagerung des Deutschen Bundestags in Bonn während der Aufrüstungsdebatten teil, protestierten gegen
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