Die Kunst, nicht abzustumpfen
entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht,« demnach also gänzlich getrennt von Empfindungen wie Glück oder Lust. War aber die Fähigkeit, Freude zu empfinden, erst einmal zerstört, dann konnte der eine Selbstzweck (Erwerb von Geld) im Laufe der folgenden Jahrhunderte durch den anderen ersetzt werden: Erwerb von Konsumgütern. Damit sind wir wieder bei der gierigen Unersättlichkeit des »Immer-mehr« angekommen:
Askese und die Unfähigkeit, Freude zu empfinden einerseits sowie Unersättlichkeit (im Arbeiten, Geld-Erwerben oder Konsumieren) andererseits gehören zusammen, sind zwei Seiten derselben Medaille. Das wird eindrücklich in Frederick Turners (zit. in: Fox 1991, 53) Schilderung der freudlosen Männer, die Amerika eroberten: »Die neue Welt erschien denen, die auf Kolumbus und Cortez folgten, wegen ihrer natürlichen Gaben unglaublich. Das Land kündigte sich manchmal meilenweit ins Meer hinein durch einen schweren Duft an. Im Jahre 1524 konnte Giovanni di Varrazano die Zedern der Ostküste hundert Wegstunden weit hinaus riechen. Die Männer von Henry Hudsons Half Moon waren zeitweise wie bezaubert vom Duft der Küste New Jerseys. Und Schiffe, die weiter oberhalb an der Küste fuhren, glitten manchmal durch riesige Flächen schwimmender Blumen. Wo immer sie das Land betraten, fanden sie einen wilden Reichtum an Farben und Klängen, Wild und üppige Vegetation. Wären sie andere gewesen, die sie waren, hätten sie dort vielleicht eine neue Mythologie geschrieben. So aber machten sie nur Inventur.«
Die Inventur mündete in Zerstückelung und Ausbeutung. Innerhalb nur weniger Jahrhunderte sind große Teile der neuen Welt »Untertan« gemacht, abgeholzt, zubetoniert, verwüstet, verslumt, zugemüllt, militarisiert, verseucht und mit Werbung beklebt; die vorherrschenden Düfte und Klänge sind heute Bratfett, Abgase und Motorenlärm.
Für die Tiefenökologin Joanna Macy basiert »die Wachstumsgesellschaft, die es zu überwinden gelte, (…) auf chronischer Unzufriedenheit, auf dem Drang, immer mehr und anderes zu wollen« (Schellhorn 2010, 21). Ein Ausweg aus dieser destruktiven Dynamik könnte in einer Wieder-Entdeckung von Freude bestehen, weil »Schöpfung und Lust zusammengehören«, so Seitz-Weinzierl (1994, 31). Für Fox (1991, 63f.) passt das Schmecken besser zur Schöpfung als das Inventarisieren: »Wenn wir mehr genießen könnten, würden wir weniger kaufen und wären weniger unter Druck, weniger frustriert. Wir würden auch weniger arbeiten und mehr spielen und dadurch mehr Arbeitsplätze für die Arbeitslosen und Unterbeschäftigten in unserer Kultur schaffen. Würden wir mehr genießen, so würden unsere Kommunikation tiefer, unsere Beziehungen voller, unser Wettbewerb geringer und unsere Feiern echter. Wir hätten tieferen Bezug zu uns selbst, zur Schöpfung (…), zum Jetzt und zu Gott. Wir wären in unserer moralischen Empörung stärker verbunden, weil unsere Liebe zum Leben sich so drastisch vertiefte, dass wir gegenüber den Mächten des Todes immer weniger tolerant würden.«
So könnte die Wiedergewinnung der menschlichen Fähigkeit, Freude zu erleben, ein Ausweg aus der Krise darstellen, die aus der »Immer-mehr«-Haltung entspringt – eine echte Alternative zu asketischen Forderungen nach »weniger«. Zugleich ist Freude eine der machtvollsten Emotionen. Sie ist eine Antriebskraft, ohne die Engagierte auf Dauer in Gefahr sind, auszubrennen: Freude beflügelt und verwandelt; sie beschleunigt den Puls; der Atem wird tiefer, die Mundwinkel gehen nach oben, die Augen beginnen zu leuchten, und der Mensch strahlt. Freude hilft, »das ganze Potenzial, das angelegt ist in uns, zu leben«, so die Theologin Annekarin Hannenhofer (zit. in: Laurenz 2010a, 54). Sie lässt uns spüren, dass es etwas Größeres gibt als das, was unseren Alltag sonst beherrscht. Sie ist für den Tanztherapeuten Peter Erlenwein »ein Sprung aus dem Ich-Raum heraus«. Für die Metaphysikerin Jill Möbius bedeutet
Freude »die Wahrnehmung der Einheit, der Verbundenheit mit allem Sein, mit der gesamten Schöpfung« (zit. in: Laurenz 2010a, 55).
Auch innerhalb des Christentums gibt es neben der asketischen, Freude verachtenden Interpretation eine andere, lebensbejahende Traditionslinie, welche die Schöpfung als Segen betrachtet und Freude als angemessene Reaktion darauf. So ist etwa Juliana von Norwich überzeugt, »dass Himmel und Erde und die ganze Schöpfung großartig sind, weitherzig und schön und gut …
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