Die Kunst, nicht abzustumpfen
Doch wir trauten unserer Kraft. Nachdem wir akzeptiert hatten, dass uns nur ein Wunder weiterhelfen könnte, kamen die Leute merkwürdigerweise in Scharen zu uns. Sie
kamen wie nach Plan: Als wir einen Elektroniker brauchten, erschien einer; als ein Schiffszimmermann gebraucht wurde, kam einer zum nächsten Treffen. Als wir einen Musiker, einen Fotografen oder einen Ingenieur brauchten, erschienen sie wie gerufen. (…)
Für die bereits bestehenden Organisationen war das Ganze zu bizarr, und so standen wir bald abseits der herkömmlichen Umweltschutzbewegung. Daran änderte zunächst auch die Tatsache nichts, dass (…) wir zum Beispiel Elektroniker, Navigatoren, Ozeanographen, Taucher, Ärzte und Anwälte zu unseren Mitarbeitern zählen konnten. Trotzdem waren wir den Leuten suspekt. Wir waren eine herrliche, unkonventionelle Mischung aus menschlichen Talenten und Fähigkeiten.«
Stellen wir uns vor, die genannten Helfer hätten sich zuvor gesagt: »Ich bin ja nur ein Elektroniker« oder »Ich kann ja nur navigieren« usw.. Stellen wir uns vor, sie wären aus diesem Grund nicht zu Greenpeace gestoßen: Vielleicht wäre diese Organisation schon in den Anfängen verkümmert – um wie viel ärmer wäre die Welt heute!
Berufung
Jeder Mensch hat etwas zum Frieden, zur Gerechtigkeit und Naturbewahrung beizutragen und zwar mit ihren/seinen jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Genau diese sind gefragt, um die globale Katastrophe vielleicht noch abzuwenden. Viktor E. Frankl ist davon überzeugt, dass jeder Mensch berufen sei, zu tun, was getan werden müsse. »Wo die Bedürfnisse der Welt mit deinen Talenten zusammentreffen, dort liegt deine Berufung«, so der griechische Philosoph Aristoteles; genau dort entfaltet sich Sinn.
Oft ist es eine einzige, unerwartete Erfahrung, in der ein Mensch seine Berufung entdeckt. Dies kann ihn so tief berühren, dass er sein Leben ganz neu ausrichtet. Oft werden zunächst
Zweifel oder Verzagtheit ausgelöst; etwa bei Moses, nachdem er am brennenden Dornbusch den Auftrag erhält, sein Volk in die Freiheit zu führen: »Es wäre jetzt einfacher, klein zu bleiben, weiter die Schafe zu hüten und die versklavten Israeliten ihrem Schicksal zu überlassen«, so Baumann-Lerch (2011, 64). Der Berufene fühlt sich gepackt und zugleich überfordert – bis er vernimmt, dass er seine Aufgabe nicht nur aus eigener Kraft bewältigen muss, weil Gott ihm vermittelt: »Ich bin mit dir.«
Viele Menschen kennen kaum ihre Stärken und Schwächen, geschweige denn ihre Aufgabe für die Welt. Inzwischen gibt es jedoch eine Reihe von Beratungen, die Menschen dabei helfen, ihre Berufung zu finden, etwa das »Life/Work-Planning« nach Nelson Bolles. Trainer dieses Konzepts berichten von verblüffenden Beispielen, wie Menschen »erst ihre Berufung entdeckt und sich dann eine entsprechende Stelle geschaffen haben« (Teupke 2010, 25). So gesehen, könnte sich der – unvermeidbare – Verlust von Arbeitsplätzen in zukunftsfeindlichen Berufszweigen als Chance für Arbeitslose herausstellen. Dafür genügt es allerdings nicht, diese Menschen mit Hartz-IV-Geldern (oder einem Grundeinkommen) abzuspeisen. Um zu verhindern, dass sie von Antriebslosigkeit gelähmt werden, benötigen sie Unterstützung darin, ihre Berufung zu finden (Teupke 2010).
Für den Berater Herbert Alphonso ist Berufung »das tiefste Geheimnis von Einheit und Integration«, zugleich eine »Quelle von Kraft und Lebensfreude, ein unerschöpfliches Reservoir spiritueller Wachstumsmöglichkeiten« (zit. in Baumann-Lerch 2011, 64). Berufungen können dazu beitragen, ein System zu sprengen, weil berufene Menschen um ihre Würde wissen und nicht mehr »einfach so« funktionieren. »Sie befreien nicht nur die Berufenen, sondern auch ihr Umfeld, ihr Volk, ihre Gesellschaft«, wie Eva Baumann-Lerch (2011, 65) schreibt. Nelson Mandela: »Wenn wir unser eigenes Licht erscheinen lassen, geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.« (zit. in: Baumann-Lerch 2011, 65)
Ein Engagement, das durch eine Berufung motiviert ist – ob »groß« wie bei Moses, oder ob (scheinbar) »klein« wie bei Irene Morgan – geht weit über die Rolle hinaus, die ein Einzelner z. B. bei Massen-Demonstrationen zu spielen hat. Dabei soll der Einzelne ja nur dazu beitragen, dass eine möglichst große Zahl von gesichtslosen Menschen zusammenkommt; hier ist jeder Mensch in der Tat nur eine Nummer. Solche Protestformen können – zu ihrer
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