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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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2000 in Melbourne wurde die »Bewältigung von Hoffnungs- und Hilflosigkeit (…) als
wirksamstes Instrument der Krankheitsverarbeitung« genannt (Franke-Lompa 2006, 262). 7
    Es ist erwiesen, dass Menschen ohne Ziel und ohne Entfaltungsmöglichkeiten anfälliger für Krankheiten sind und dass ihre Krankheiten länger andauern. So scheint Hoffnungslosigkeit »die synthetischen Fähigkeiten der Persönlichkeit derart zu beeindrucken, dass es zum Auftreten unkontrollierter und entgleisender körperlicher Prozesse kommt.« (Overbeck 1984, 68). Der Verlust von Hoffnung zeigt einen Prozess an, der, so Heike Schnoor (1988, 212) »auf der somatischen Ebene mit einer aktiven Selbstzerstörung einhergeht, die in letzter Konsequenz zum Tode führt.« Mitscherlich (1967, 54) bezeichnet diesen Vorgang als »Physiologie der Hoffnungslosigkeit«. In irgendeiner Form können offenbar sogar Tiere Aussichtslosigkeit erleben (z. B. Wildtiere in Gefangenschaft), sich aufgeben und sterben (Overbeck 1984, 68).
    Hoffnungslosigkeit erklärt z. B. auch die erhöhte Krankheits- und Sterberate, die bei Witwen und Witwern beobachtet wurde. Deren Gesundheit verschlechtert sich nach dem Verlust des Partners im Durchschnitt deutlich; Infektionskrankheiten, Herzkrankheiten, Rheuma, Schmerzsyndrome, Asthma und vegetative Beschwerden nehmen zu. Im ersten halben Jahr nach dem Tod des Partners erhöht sich ihre Sterblichkeitsrate, verglichen mit gleichaltrigen Verheirateten, um 40 Prozent (Overbeck 1984, 71). Dies erklärt auch die so genannten Pensionierungstode (alte Menschen sterben häufig kurz nach ihrer Pensionierung) und die erhöhte Krankheitsrate unter Arbeitslosen (deren Probleme demnach durch Geld allein nicht zu beheben sind).
    Hoffnungslosigkeit dürfte auch verantwortlich sein für den Tod Pablo Nerudas: Wie Curt Meyer-Clason (1974, 467) schreibt, war er durch den Militärputsch gegen seinen Freund
Salvador Allende und dessen Tod »moralisch gebrochen«; innerhalb weniger Tage entwickelte Neruda hohes Fieber und starb.
    Diese Zusammenhänge zeigen, dass in dem empörten Ausruf »Diese Politik macht mich ganz krank!« durchaus einige Wahrheit steckt. Dies wirft interessante Fragen auf: Wie viele Krankheiten sind (mit)verursacht durch gesellschaftliche Verhältnisse, welche den Menschen das Hoffen schwer machen? Wie viele zusätzliche Kosten werden so dem Gesundheitswesen durch eine Politik aufgebürdet, die zugleich deren ›Ausufern‹ beklagt und zu bekämpfen versucht?
    Positiv gewendet zeigt sich, dass Gesundheit nicht nur durch körperliche Bewegung und gesunde Ernährung aufrechterhalten werden kann, sondern auch durch ein hoffnungsvolles gesellschaftliches Klima. Eine Langzeitstudie an der Universität von Michigan kommt zum Ergebnis, dass Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, länger leben, wenn sie dies aus uneigennützigen Motiven tun (Nur 2012, 59). Somit kann auch »Bewegung« anderer Art – nämlich politisches, ökologisches oder soziales Engagement – zur Gesundung beitragen. Ich stelle mir z. B. Ärzte vor, die Patienten als Medizin etwa ein vierwöchiges Praktikum bei »Terre des Femmes« verschreiben …
    Hoffnung aufrechterhalten und Sinn verwirklichen: Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Gesundheit und – mit Hinweis auf Viktor E. Frankl – es ist zu betonen, dass letztlich keine Macht der Welt, keine »falschen Verhältnisse«, den Einzelnen davon abhalten kann, diese Chance zu nutzen.

9. »etwas«
    Vor seinem Ende sprach Rabbi Sussja: In der kommenden Welt werde ich nicht gefragt werden: »Warum bist du nicht Mose gewesen?«
Die Frage wird lauten: »Warum bist du nicht Sussja gewesen?«
    Martin Buber
     
    Der Impuls, »etwas« gegen die Katastrophe zu tun, ist grundlegend wichtig. Allerdings ist dieses Wort eher vage, beliebig, eine unbestimmte Menge irgendwo zwischen »alles« und »nichts« andeutend. Darüber hinaus suggeriert das »etwas«, dass es auf das Was ankäme. In diesem Abschnitt möchte ich darlegen, dass es wesentlich auch auf das Wie des Handelns ankommt und dass Engagement alles andere als beliebig ist.
    Was
    Die Unbestimmtheit des Wortes »etwas« drückt vermutlich eine Unsicherheit aus, die mir z. B. in politischen Diskussionen häufig begegnet. Etwa wenn Menschen von sich sagen: »Aber ich kann ja nur … tun« und dabei einige Fähigkeiten aufzählen, die sie selbst als wenig bedeutsam einschätzen.
    Nur? Ich bezweifle, dass es sinnvoll ist, Engagement für Frieden, Gerechtigkeit

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