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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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und Naturbewahrung zu »messen« und in seinen Auswirkungen zu bewerten. Wer vermag schon zu beurteilen, welche Aktion »groß« und welche »nur klein« ist? Wer könnte schon die vielfältigen Wechselwirkungen, die das gesellschaftliche Geschehen ausmachen, entwirren und danach bestimmen, welche der Beiträge jeweils »wichtig« und welche »unwichtig« gewesen seien?
    Vermutlich ist die Vorstellung von »bedeutsamem« und »weniger bedeutsamem« Engagement auch eine Spätfolge eines Geschichtsunterrichts, wonach es die »großen«, »heroischen«,
»außergewöhnlichen«, »besonderen« Persönlichkeiten – in der Regel: Männer – seien, welche Geschichte machen. Ähnliche Vorstellungen werden bis in die Gegenwart auch durch einen Experten- und Prominenten-Kult vermittelt, der durch Massenmedien, Preisverleihungen, Ehrungen usw. inszeniert wird. So wurde zum Beispiel in den USA im Jahr 1986 ein nationaler Gedenk- und Feiertag für Martin Luther King jr. eingerichtet (der dritte Montag im Januar). Dabei sehe ich – bei allem Respekt für diesen Mann – die Gefahr, dass die Bürgerrechtsbewegung reduziert wird auf einen Prominenten, der idealisiert und mystifiziert wird.
    Tatsächlich wäre jedoch diese machtvolle soziale Bewegung nicht möglich gewesen ohne das Engagement von hunderttausenden Mitstreiter/-innen. Und davor, die massenhafte Bewegung vorbereitend, durch die zivilcouragierten Taten ungezählter nicht-prominenter Frauen und Männer. Darunter eine so harmlos erscheinende Tat wie z. B. die Weigerung, im Bus aufzustehen: Am 1. Dezember 1955 lehnte es die 42-jährige Sekretärin Rosa Parks in Montgomery, Alabama, ab, ihren Sitzplatz in einem öffentlichen Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen, wie es die Rassentrennung damals bestimmte. Der Busfahrer ließ daraufhin die Polizei kommen, die Rosa Parks wegen Störung der öffentlichen Ruhe verhaftete; sie wurde zu 10 Dollar Strafe zuzüglich 4 Dollar Gerichtskosten verurteilt. Ihre Tat gilt als einer der Auslöser für den Busboykott in Montgomery (organisiert vom damals noch wenig bekannten Martin Luther King) und die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung.
    Aber auch Rosa Parks’ Aktion hatte Vorläufer: Schon elf Jahre zuvor hatte die 27-jährige Irene Morgan in einem Bus von Virginia nach Maryland ihren Sitzplatz nicht geräumt und war verhaftet worden. Das Gericht kam zum Ergebnis, dass die Rassentrennung bei Beförderungen zwischen Bundesstaaten nicht anzuwenden sei. Daraufhin führten Bürgerrechtler in den folgenden Jahren Dutzende von zwischenstaatlichen Busfahrten
(»freedom rides«) durch, um das Gerichtsurteil zu bekräftigen.
    Diese Beispiele zeigen, dass Geschichte immer ein vielfältiges Geflecht von Aktionen, Einflüssen, Wechselwirkungen usw. ist, welches nie auf das Wirken einer einzigen Person reduziert werden kann. Wer vermag also zu beurteilen, wie »bedeutend« eine Tat jeweils ist oder nicht ist? Wir können nie wissen, was eine Aktion – vielleicht erst Jahre später – auslöst. Kleine Ursachen können große, unvorhergesehene Wirkungen haben (dazu mehr in Teil 3). Wer könnte alle die wechselseitigen Einflüsse überblicken? Worauf es ankommt, sind meines Erachtens nicht nur die einzelne Taten, sondern auch deren Zusammenspiel ; dies möchte ich an einem anderen Beispiel illustrieren:
    Monika Griefahn (1983, 16f.) schildert die Anfänge von Greenpeace und deren Schritt vom Kampf gegen die Atombombe zum Kampf für die Rettung der Wale: »Als es um den Schutz vor der Bombe ging, handelten wir sozusagen im eigenen Interesse. Das war nichts Neues. (…) Aber unser Kampf für die Wale wurde zu einer Glaubenssache. Als wir bekannt gaben, dass wir bereit wären zu sterben, um die Wale zu retten, verpflichteten wir uns der größten Sache, die wir bisher unternommen hatten. Wir verpflichteten uns einer Aufgabe, die über den Rahmen der menschlichen Sache hinausging. Wir hatten einen Augenblick lang die Vision einer neuen Welt. Plötzlich schien alles so einfach: Wenn unser Planet vor der Zerstörung bewahrt werden sollte, genügte es nicht, die Menschheit vor ihrer eigenen Torheit zu schützen. Wir müssen genauso die irdische Flora und Fauna (Pflanzen und Tierwelt) schützen, denn ohne sie würde der gesamte Kreislauf des Lebens geschwächt werden und schließlich zugrunde gehen.
    Über der ›Neuen Arbeit‹ schwebte auch ein Stück Mystik: Jeder warnte uns, dass wir die Walfänger in der weiten See nie finden würden.

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