Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
Vom Netzwerk:
Meditation zu erreichen suchte (sich für ein Handeln aus Wahrheit, Liebe bzw. Seele zu befreien): könnte dies hier durch Selbst-Erfahrung und -Erkenntnis erlangt werden, auch durch Bewusstwerden und Durcharbeiten der Bedürftigkeit des Ichs nach Sicherheit und Anerkennung? Damit komme ich zum Begriff des »Selbst« zurück, der oben (Seite 109) mit Bezug auf C. G. Jung bereits skizziert wurde. Demnach könnte Satyagraha als ein Handeln übersetzt werden, das vom Selbst, aus der Mitte der Psyche kommt und, über das Ich hinausgehend, auf die Überwindung der Gegensätze gerichtet ist: Ganzheit.
    Ein Handeln, das vom Selbst motiviert ist: Etwas davon finde ich etwa in Monika Griefahns Schilderung der Anfänge von
Greenpeace wieder. Denn es ging, wie sie schreibt, beim Kampf für die Wale um mehr als den Schutz der eigenen Interessen. Vielmehr »verpflichteten wir uns einer Aufgabe, die über den Rahmen der menschlichen Sache hinausging. Wir hatten einen Augenblick lang die Vision einer neuen Welt.« (Griefahn 1983, 16).
    Griefahn beschreibt hier ein Engagement, das über die Interessen des Ichs und der Menschheit hinausgeht und das Ganze umfasst. Ein solches Handeln aus dem Selbst stellt meines Erachtens einen Paradigmen - Wechsel dar gegenüber einem Aktivismus, das von einem »man« oder »Ich« motiviert ist. Es macht einen qualitativen Unterschied, ob ein Mensch aktiv wird: Weil »man« das so macht (so wie »man« z. B. sonntags zur Kirche geht). Oder weil das »Ich« z. B. sein Bedürfnis nach Sicherheit, Erfolg oder Anerkennung befriedigen möchte. Oder, über das »Ich« hinausreichend, weil ein Mensch, motiviert durch das »Selbst«, nach Überwindung der Gegensätze, Ganzheit, strebt. Dazu ein beeindruckendes Beispiel, von dem Kiefer (2011, 2) berichtet:
    Am 29. Juli 1941 um 14 Uhr ertönt im KZ Auschwitz die Lagersirene, nachdem ein Häftling bei einem Außeneinsatz geflohen war. Die Mithäftlinge wissen, was auf sie zukommt: »Bis Mitternacht stehen sie auf dem Appellplatz, draußen schnüffeln die Suchhunde. Zu essen gibt es nichts – die Schergen schütten die Suppe zynisch in den Kanal.
    Schutzhaftlagerleiter Karl Fritsch brüllt, Flucht werde nicht toleriert, sein Dolmetscher ›soll das den Schweinen auf Polnisch klarmachen‹. Der 38-jährige SS-Hauptsturmführer, der wenige Wochen später Häftlinge mit Zyklon B zu vergasen beginnt, lässt für diese Flucht zehn KZ-Insassen büßen. Sein Zeigefinder und sein ›Du‹ bedeuten: Tod im Hungerbunker.
    Es trifft auch den 40-jährigen Polen Franciszek Gajowniczek, der weithin hörbar zu schluchzen beginnt: ›Gott, meine Frau, meine Kinder.‹ Da tritt der Häftling Lagernummer 16670 aus der Reihe – einfach so, eine Ungeheuerlichkeit. ›Was will‹,
fragt Fritsch völlig fassungslos, ›das polnische Schwein?‹ Dessen Antwort auf Deutsch: ›Ich will statt seiner sterben.‹ ›Wer bist Du?‹ Jeder rechnet damit, dass der SS-Brutalo den Häftling niederknüppeln lässt oder ihn gar selbst erschießt. Doch dieser Pater, Dr. theol. und Dr. phil. Maximilian Kolbe, weckt, in vorgeschriebener Häftlingshaltung mit der Mütze in der Hand und den Händen an der Hosennaht, bei Karl Fritsch so viel Respekt, dass der sogar höflich fragt: ›Warum wollen Sie statt seiner sterben?‹ Der Seelsorger, ebenso kurz wie bestimmt: ›Er hat Frau und Kinder.‹ Der SS-Mann akzeptiert.«
    Von einem weiteren, näher an der Gegenwart liegenden Beispiel berichtet Mechthild Stöber-Lutter (1983): Eine Fasten-Aktion zum Gedenken an die Opfer von Hiroshima und Nagasaki in Brüssel, Standort des NATO-Hauptquartiers, im Sommer 1983. Die drei Fastenden werden begleitet von Nagahama, einem buddhistischen Mönch der Nipponzan-Myōhōji-Gemeinschaft. Die vier setzen sich vor eine Kirche in der Innenstadt, betend und trommelnd. Nach kurzer Zeit werden sie von zwei Polizisten aufgefordert, den Platz zu verlassen. Als den Polizisten gesagt wird, dass die Aktion polizeilich angemeldet und genehmigt wurde, sammeln sie die Ausweise ein und gehen. Kurz darauf kommen sie zu viert zurück und fordern die Aktivisten freundlich auf, entweder aufzuhören zu trommeln oder zu gehen, andernfalls seien die Polizisten gezwungen, sie mitzunehmen. Wie sich herausstellt, wird das meditative Trommeln zur Straßenmusik gezählt, die in der Innenstadt nicht erlaubt ist.
    Während Nagahama sich in seinem Gebet nicht beirren lässt, erklären die Fastenden den Polizisten und den mittlerweile etwa

Weitere Kostenlose Bücher