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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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Zeit, in bestimmten Situationen – durchaus hilfreich sein (z. B. die Massenproteste, die zum Fall der Mauer 1989 oder zum Sturz Mubaraks in Ägypten 1991 führten). Insgesamt jedoch bin ich der Auffassung, dass mit solchen Aktionen die menschlichen Wirkmöglichkeiten bei weitem unterschätzt werden.
    Denn, so die Sozialforscher Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt (2007, 649), »… die Stärke sozialer Bewegungen liegt im committment, der hohen Motivation und Begeisterungsfähigkeit ihrer Aktivisten und Teilnehmer.« Ihre Stärke liegt nicht in der Zahl der Beteiligten, sondern in der Intensität , mit der diese für ein Anliegen eintreten. Tilman Evers (1987, 229) plädiert für eine »qualitative Politik«, bei der es »nicht so sehr auf die sie tragende Zahl der Aktiven, wohl aber auf deren Intensität« ankommt. Die Stärke sozialer Bewegungen liegt mit anderen Worten nicht in der Quantität ihrer Teilnehmer, sondern in der Qualität ihres Handelns. Es kommt demnach nicht nur darauf an, was wir jeweils tun, sondern wesentlich auch auf das Wie :
    Wie
    Eine Handlung kann ganz verschiedene Wirkungen haben, je nachdem, mit welcher Haltung sie durchgeführt wird. Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung ist immer auch ein Beziehungsgeschehen; z. B. zwischen Aktivist und Passant bei einem Informationsstand in der Fußgängerzone.
Ein und dieselbe Information wird beim Gegenüber ganz anders »ankommen«, je nachdem, ob sie mit Schuldgefühlen oder mit Hoffnung kommuniziert wird; ob sie in verächtlicher oder wertschätzender Art und Weise vermittelt wird. Dabei geht es nicht nur um die Wortwahl, die durch oberflächliche Sprachkosmetik oder ein »Training« angelernt werden könnte, sondern um die Haltung . Denn beim Engagement ist – wie in allen sozialen Berufen – die eigene Persönlichkeit »das wichtigste Instrument«. (Schmidbauer 1990, 7)
    Dies gilt z. B. auch für Demonstrationszüge. Dabei habe ich häufig beobachtet, dass die Passanten von den Demonstrierenden zwar vom Wortlaut her zum Mitmachen eingeladen werden, z. B. indem »Solidarisieren! Mitmarschieren!« skandiert wird. Zugleich wird jedoch häufig die gegenteilige Botschaft vermittelt: durch die abstoßende Aggressivität der gebrüllten Slogans, den dröhnenden Lärm der Lautsprecher, die gereckten Fäuste usw. bis hin zur lieblosen Gestaltung der Flugblätter.
    »Das Medium ist die Botschaft«: Die Tragweite dieses Satzes von Marshall McLuhan für das soziale und politische Engagement hat am klarsten wohl Mahatma Gandhi ausgelotet. Um dessen Vorstellungen von sozialem Handeln zu verstehen, erscheint es mir jedoch notwendig, zunächst ein Missverständnis auszuräumen:
    Als Gandhis Werk in die westliche Welt übertragen wurde, passierte etwas Merkwürdiges. Sein zentraler Begriff »Satyagraha« wurde überwiegend übersetzt in »Gewaltlosigkeit« oder »Gewaltfreiheit« 8 und in der Folge regelmäßig verwechselt mit Passivität, Verzicht, Schwäche, Wehr- oder Tatenlosigkeit. Das ist etwa so, wie wenn Licht als »Nicht-Dunkelheit« definiert würde! Tatsächlich meint Satyagraha jedoch etwas anderes als nur passiven Verzicht auf Gewalt.

    Das Wort wurde von Gandhi aus zwei anderen Sanskrit-Worten zusammengesetzt: aus Satya (etwa: »Wahrheit, Ideal, wie etwas sein sollte«) und Graha (»beharren, stark an etwas festhalten, auf etwas bestehen«). Demnach bedeutet Satyagraha wörtlich etwa »festhalten an der Wahrheit«; Gandhi verstand darunter die Kraft der Wahrheit, der Seele oder der Liebe. Satyagraha beschreibt demnach ein Handeln, das sich an der Wahrheit orientiert, ein Engagement aus Liebe oder aus der Seele.
    Satyagraha ist keine »Technik«, sondern beschreibt eine Haltung des Handelnden (des »Satyagrahi«). Gandhis Weg, um diese Haltung zu erringen, bestand in asketischer Selbstreinigung (Fasten, Schweigen, Besitzlosigkeit, Diät, Enthaltsamkeit, manuelle Arbeit), Meditation und Gebet. Dies war Gandhis Weg, der aber meines Erachtens nicht dogmatisch in die heutige westliche Welt übersetzt werden kann. Für uns kann es nicht das Ziel sein, »wie Gandhi« werden zu wollen – so wenig es in der oben (Seite 121) zitierten chassidischen Geschichte Lebenssinn für Rabbi Sussja war, wie Moses zu werden.
    Für sinnvoller halte ich es vielmehr, den Wesenskern von Satyagraha zu wahren und Wege zu dieser Haltung zu gehen, die unserer westlichen Entwicklung entsprechen. Was Gandhi dort durch asketische Läuterung und

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