Die Kunst, nicht abzustumpfen
hundert Passanten, die sich hinzugesellt haben, den Hintergrund des Ordens, dem Nagahama angehört, und dass sie ihn nicht vom Trommeln abhalten werden. Die Umstehenden reagieren sehr freundlich, auch die Polizisten, denen es sichtlich schwerfällt, die vier aufzufordern, ihnen zu folgen. Unter dem Beifall der Zuhörer steigen sie in ein Polizeiauto.
Während der Fahrt zur Polizeiwache hört Nagahama nicht auf, laut zu beten. Derweil erklärt ein Polizist, dass es ihm leid tue, sie festnehmen zu müssen, aber er habe seine Anweisungen.
Auf dem Polizeirevier halten sich ständig bis zu zehn Polizisten im Raum auf, aufmerksam geworden durch das Trommeln. Stöber-Lutter: »Nagahama reicht Postkarten von Hiroshima herum, die die Stadt nach dem Atombombenabwurf zeigen, und einige Polizisten sind merklich betroffen. Einer bittet uns um ein Friedensmarschplakat, was wir ihm schenken. Er verspricht, es in seinem Büro aufzuhängen. Nach etwa einer Dreiviertelstunde entlässt man uns mit dem Rat, uns ja nicht noch einmal vor die Kirche zu setzen. Der Polizeichef sagt wörtlich: ›Eigentlich müsste ich Sie jetzt für eine Weile einsperren, das wissen Sie ja wohl. Aber das täte mir zu leid, weil ich Ihre Aktion an sich gut und richtig finde.‹ Wir gehen und Nagahama bedankt sich bei den Beamten für die freundliche Aufnahme auf dem Revier.«
Mechthild Stöber-Lutter betont, »dass sowohl die Polizisten als auch wir immer höflich blieben und dass vor allem Nagahama mit seinem Verhalten, in dem deutlich seine Achtung vor allen Menschen sichtbar wird, wesentlich dazu beiträgt, dass unsere Aktion zu keiner Zeit auf harte Ablehnung oder Kritik stößt. (…) Ich habe festgestellt, dass wir die einzelnen Polizisten und Passanten als Menschen wahrnehmen können und dass wir ebenso als Menschen, vielleicht manchmal belächelt, aber doch immer geachtet werden. Diese Erfahrungen sind bei großen Demonstrationen, wo die Masse der Demonstranten der Masse der Polizisten gegenübersteht, meist nicht möglich.«
Das integrale Bewusstsein
Probleme kann man niemals auf derselben Ebene lösen, auf der sie entstanden sind.
Albert Einstein
Soweit einige Beispiele für ein Handeln, das meiner Einschätzung nach vom Selbst motiviert ist. Wichtig ist mir die Frage: Was geschieht, wenn sich Menschen begegnen, die aus verschiedenen Paradigmen heraus handeln? Was passiert, wenn Menschen aufeinandertreffen, die hier aus dem Selbst, dort aus dem »Ich« oder »man« heraus handeln? Was passiert, wenn sich Menschen begegnen, die – in der Begrifflichkeit Jean Gebsers – verschiedenen »Bewusstseins-Strukturen« angehören? Der deutsch-schweizerische Bewusstseinsforscher und Philosoph hat eine differenzierte Analyse der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins vorgelegt, die auch nachfolgende Bewusstseinsforscher (wie z. B. Ken Wilber) inspirierte und die ich zur Beantwortung der eben gestellten Frage für geeignet halte:
In seinem Hauptwerk »Ursprung und Gegenwart« beschreibt Jean Gebser (1988) verschiedene Strukturen des menschlichen Bewusstseins, d. h. unterschiedliche Weisen oder Paradigmen, sich selbst und die Welt wahrzunehmen, gedanklich zu verarbeiten und zu handeln. Diese Bewußtseins-Strukturen sind deutlich voneinander unterscheidbar und können jeweils bestimmten Raum-Zeit-Vorstellungen sowie Epochen der Menschheitsgeschichte zugeordnet werden. Zusammengefasst unterscheidet Gebser zwischen den ursprünglichen archaischen und den darauf folgenden magischen, mythischen und mentalen sowie integralen Bewusstseins-Strukturen.
So gehört die eindimensionale, magisch -zeitlose Bewusstseins-Struktur zur Frühgeschichte des Menschen; die zweidimensionale mythische Struktur zur vorindustriellen Welt, sie ist u.a. charakterisiert durch das »man« und ein naturhaftes, zyklisches Verständnis von Zeit. Demgegenüber ist das rational-technische
Zeitalter durch die dreidimensionale mentale Struktur gekennzeichnet; zu dieser gehört das »Ich«-Bewusstsein sowie ein quantitativ-linearer Zeitbegriff (»Uhr-Zeit«).
Der Entwicklungssprung von einer Bewusstseins-Struktur in die folgende wird not-wendig (im Sinne von »die-Not-wendend«), wenn die alte Struktur überholt ist, defizient, nicht mehr in der Lage, die Probleme der Zeit zu lösen. Die neue Struktur ist wie ein anderes Paradigma, das neue Lösungen für alte Probleme ermöglicht. Allerdings kann der Übergang von einer Bewusstseins-Struktur in eine folgende mit
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