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Die kuriosesten Faelle vor Gericht

Die kuriosesten Faelle vor Gericht

Titel: Die kuriosesten Faelle vor Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Schlegel
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Denn: „Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen” (Schiller, Gedichte an Goethe).
    Allenfalls ließe sich hier § 11 II entnehmen, daß in solchen Fällen die Parteien sich hier miteinander hätten verständigen müssen, bevor sie sich zum Zusammenstoß entschlossen. Damit ist zu meiner Beschämung nunmehr der Fall eingetreten, daß ich mich gezwungen sehe, § 1 II StVO anwenden zu müssen. Das ist eine Vorschrift, die ansonsten nur von Richtern angewendet wird, denen sonst nichts einfällt.
    „ Laß ruhig auch dem schönen Schein sein bißchen Recht!
Auch Schein ist echt, will er nichts weiter sein”
(Cäsar Flaischlen)
    Deshalb muß ich den Parteien die Berufung auf den Grafen Leicester in Schillers Maria Stuart (4,6) leider versagen:
    „ Der Schein ist gegen mich, doch darf ich hoffen,
daß ich nicht nach dem Schein gerichtet werde”.
    Mit diesem Appell mögen die Parteien jeder für sich das Herz des zuständigen Bußgeldrichters erweichen.
    Im Zivilrecht hingegen muß jeder (Paulus im 1. Brief an die Thessaloniker 5,22). Denn:
    „ Der Schein regiert die Welt, und
die Gerechtigkeit ist nur auf der Bühne”
(Narbonne in Schillers Parasit 5, 8)
    Die buchstabengetreue Auslegung des wirklichen Willens dieses verwirrenden Schilderwaldes führt somit insgesamt zu dem Ergebnis, daß sich beide Parteien zivilrechtlich einer mutuellen, dupliziert-reflexiven, fiktiven Pseudo-Vorfahrtverletzung schuldig gemacht haben. Es liegt auch klar auf der Hand, daß eine duplizierte Vorfahrtverletzung doppelt so schwer wiegt wie eine simple. Nach der maßgebenden Flensburger Punkte-Tabelle steht es daher am Ende der 1. Halbzeit der Fallbearbeitung zunächst 6 zu 6 und damit unentschieden (Nr. 12 des Bußgeldkatalogs analog).
    Der Beklagte beruft sich während der 2. Halbzeit insbesondere auf die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Klägers. Ihm ist insoweit zuzugeben, daß Kraftfahrzeuge schon nach dem Kraftfahrtgesetz vom 3.5.1909 (RGBl, 437) ob der damals im Reichstag mehrfach artikulierten „Autoraserei” (Greger, Rn. 10 zu der Vorbem. zum StVG m.N.) von Gesetzes wegen mit einer Betriebsgefahr ausgestattet sind, die einem Fahrrad leider völlig fehlt. Insofern vertreten jedoch seitdem namhafte Verkehrsexperten wie höchste Richter zunehmend die Auffassung, daß die Radfahrer dieses rechtliche Defizit durch „Disziplinlosigkeit” (BGH VRS 62, 93 = NJW 82, 234; KG VRS 68, 285) und Waghalsigkeit wettzumachen versuchen, indem sie z.B. bei Rot über die Ampel Kamikaze fahren, in Einbahnstraßen wie auf Radwegen den Geisterfahrer spielen und in rasanter Fahrt Bürgersteige unsicher machen, um Omas mit Oberschenkelhalsbrüchen zu versorgen oder ansonsten plattzufahren (insofern hat zwar seinerzeit Menken in seiner Schrift „Die Linkslage der Radfahrer”, Zeitschrift für Verkehrssicherheit, 1985, 28 eine andere Meinung vertreten. Er hat jedoch inzwischen auf Anfrage dem Gericht mitgeteilt, der Artikel sei ein unreifes und unausgegorenes Frühwerk).
    Ob diese rechtliche Beurteilung der Radfahrer zutreffend ist, bedarf hier jedoch keiner abschließenden Beurteilung. Eine genauere Abwägung der beiderseitigen fahrerisch betriebenen Gefährlichkeit führt nämlich in der 2. Halbzeit zu dem End-Ergebnis, daß es nach Auszählung der weiteren Tore bei dem Unentschieden bleiben muß.
    Das Auto des Klägers stand nach der Skizze im Unfallzeitpunkt nur noch mit einem Stück des Hecks auf dem Radweg. Damit befand sich aber der größte Teil seiner Betriebsgefährlichkeit bereits außerhalb des Radweges als Gefahrenzone. Deshalb ist der Beklagte auch gegen die linke Seite des Hecks gefahren und nicht gegen die Fahrertür oder gar gegen die Vorderhaube. Die restliche Betriebsgefahr des Autos des Klägers und das restliche Defizit an Betriebsgefahr seines Fahrrades hat der Beklagte hier auch dadurch wettgemacht, daß er mit hoher, nicht angepaßter Geschwindigkeit in die Kreuzung eingefahren ist (§ 3 StVO) Der Beklagte hat zwar vorsichtshalber nicht angegeben, wie weit er noch entfernt war, als er die Spitze des Autos auftauchen sah und mit welcher Geschwindigkeit er gegen das Heck des Autos gefahren ist, anstatt hinten drumherum zu fahren (§ 1 II StVO). Er hat insgesamt nur lakonisch erklärt, trotz einer sofort eingeleiteten Bremsung habe er den Unfall nicht mehr vermeiden können. Das ist eine eher lahme Rechtsverteidigung. Daß die Geschwindigkeit des Fahrrades beträchtlich war, beweist nämlich nicht zuletzt die nicht

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