Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kurtisane des Teufels

Die Kurtisane des Teufels

Titel: Die Kurtisane des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lessmann
Vom Netzwerk:
übertrieb er den Ton des Bedauerns in seiner Stimme so sehr, dass Kitty nicht wusste, ob er es ehrlich meinte oder sich über sie lustig machte. Zu ihrem Ärger verspürte sie einen schmerzhaften Stich ins Herz und ertappte sich bei dem Wunsch, er möge die Einladung zum Essen wiederholen.
    Mit undurchdringlicher Miene half er ihr beim Einsteigen in die Sänfte, während der ältere Träger die Tür öffnete und der andere das Dach anhob, damit sie sich nicht den Kopf stieß. Nachdem die Tür geschlossen war, legten sich die Männer die breiten Riemen über die Schultern, die an den Stangen der Sänfte befestigt waren, umfassten die Enden der Stangen mit den Händen und hoben den Tragsessel behutsam an.
    Zum Abschied suchte Kitty den Blick des jungen Mannes, der sie warnend ansah. Ein zweites Mal an diesem Tag hatte sie das unheimliche Gefühl, dass ein anderer ihre Gedanken las, und wandte hastig die Augen ab.
    Leichtfüßig trippelten die Iren die Russell Street, dann die Drury Lane und den High Holborn entlang. Als sie die Sänfte schließlich vor Mistress Speerings Haus absetzten und Kitty sie bezahlen wollte, winkten sie jedoch dankend ab und versicherten, dass sie ihnen nichts schuldig sei.
    Verwundert steckte Kitty ihre Börse in den Beutel zurück.
    »Ich brauche noch eine Auskunft«, bat sie. »Da Ihr Euch so gut in London auskennt, könnt Ihr mir doch sicher sagen, wo ich einen gewissen Jonathan Wild finde.«
    Die Sänftenträger warfen einander erstaunte Blicke zu.
    »Hat man Euch etwas gestohlen, Madam?«, fragte der Ältere. »Jeder hier in der Stadt kennt Mr. Wilds Fundbüro auf der Little Old Bailey gleich neben der Schenke ›Cooper’s Arms‹. Ihr müsst nur zum Snow Hill zurückgehen und der Straße nach Osten folgen, an St. Sepulchre vorbei, dann trefft Ihr auf der rechten Seite unmittelbar auf die Little Old Bailey. Ein Katzensprung von hier aus, Madam!«

5
    Während der Nacht fand Kitty kaum Schlaf. Ihre Gedanken kreisten unablässig um das mysteriöse Verschwinden ihres Bruders. Hatte er Mistress Speering die Unwahrheit gesagt, als er ihr Haus verlassen hatte, oder hatte er sich spontan entschlossen, doch in ein anderes Stadtviertel zu ziehen? Dagegen sprach, dass Tom King offensichtlich etwas über Thomas’ Schicksal wusste, und seine Frau musste ihn ebenfalls kennen, auch wenn sie es nicht zugegeben hatte. Und Daniel Gascoyne? Was wusste er? Weshalb hatte er ihr davon abgeraten, diesen Diebesfänger aufzusuchen? Nun, sie hatte jedenfalls nicht vor, seinen zweifellos gutgemeinten Rat zu befolgen. Wenn es keinen anderen Weg gab, etwas über den Verbleib ihres Bruders in Erfahrung zu bringen, würde sie Jonathan Wild aufsuchen und ihn höflich um Auskunft bitten. Auch ein vielbeschäftigter Mann würde sicherlich die Zeit finden, eine kurze Frage zu beantworten. Was konnte er schon Schlimmeres tun, als ihr die Tür zu weisen?
    Nach kurzem Schlummer riss der Lärm der erwachenden Stadt Kitty bei Anbruch der Dämmerung aus dem Schlaf. Läden wurden geöffnet, Pferde wieherten, Menschen grüßten oder beschimpften einander. Kitty trat ans Fenster und öffnete den Flügel, der in den Angeln quietschte. Für einen Augenblick meinte sie, wieder zu Hause in Stamford zu sein, denn aus der Ferne war das Muhen von Rindern und das Blöken von Schafen zu hören. Und dann zogen Herden von Vieh über die Cock Lane und wirbelten Wolken von Staub auf, die die frühe Morgensonne hinter einem Dunstschleier verschwinden ließen. Die Bauern der Umgebung trieben ihre Tiere zum Markt von Smithfield, um sie dort zu schlachten und das Fleisch zu verkaufen.
    Kitty erschauerte bei dem Gedanken und schloss das Fenster. Kurz darauf klopfte Mistress Speering an die Tür und brachte heißes Wasser in einer Zinnkanne.
    »Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen, Madam«, sagte sie freundlich. »Hattet Ihr Erfolg in Covent Garden? Habt Ihr Euren Bruder gefunden?«
    »Leider nicht«, antwortete Kitty. »Aber ich werde weitere Nachforschungen anstellen.«
    »In der Küche stehen Käse, Ale, Muffins und Brot frisch vom Bäcker bereit. Tee habe ich leider keinen da, falls Ihr den vorzieht. Meine Hausgäste legen gewöhnlich keinen Wert auf etwas derart Ausgefallenes.«
    »Nein danke. Ale ist vortrefflich«, erwiderte Kitty. Sie hatte bisher noch keinen Tee gekostet. Mit Schaudern erinnerte sie sich an den Kaffee, den sie am vergangenen Tag zum ersten Mal getrunken hatte, und verspürte keinerlei Verlangen, weitere Neuheiten

Weitere Kostenlose Bücher