Die Kurtisane des Teufels
und fuhr eine ganze Weile an der Mauer entlang nach Süden. Inzwischen hatte sich der Himmel immer mehr zugezogen, und der Wind frischte auf. Bald klatschten die ersten Regentropfen gegen die Glasscheibe, die in den Wagenschlag eingelassen war. Als die Mietkutsche das Hyde-Park-Tor durchquerte, war es so dunkel geworden, als sei die Abenddämmerung bereits hereingebrochen, obgleich es kaum elf Uhr war. Erneut zügelte der Kutscher sein Gespann.
»Wir sind da«, sagte Daniel leise.
Seine Stimme ließ Kitty heftig zusammenzucken. »Macht Ihr Euch über mich lustig?«, fragte sie verständnislos. »Hier ist doch nur offenes Gelände. Bringt mich zu meinem Bruder. Ich bitte Euch.«
»Kommt«, sagte er nur, verließ die Kutsche und streckte ihr auffordernd die Hand entgegen. Nach kurzem Zögern ergriff sie sie und trat neben ihn. Vor ihnen erstreckten sich unendliche blühende Wiesen, die von Wegen und Alleen durchzogen waren.
»Nun?«, fragte sie spitz.
Wortlos deutete er hinter sie. Als sie sich umwandte und ihr Blick auf den Galgen fiel, der am Kreuzweg stand, stieß sie einen entsetzten Schrei aus. Am Querbalken schwankte eine übel zugerichtete Leiche im Wind. Kopf und Rumpf waren in ein Eisengestell geschmiedet, und die Ketten, an denen der Käfig hing, quietschten gespenstisch. Obwohl man den Gehängten mit Teer bestrichen hatte, war sein Körper in Fäulnis übergegangen, und die Krähen und Elstern hatten ihm die Augen ausgehackt. Er musste bereits seit über vier Wochen dort hängen.
Wie gebannt starrte Kitty den Leichnam an, unfähig, zu begreifen, was sie sah oder weshalb sie sich an diesem schrecklichen Ort befand. Der Regen ließ sie frösteln – oder war es der Schrecken, den der Anblick in ihr hervorrief? Sie zog ihren dünnen Umhang enger um ihren Körper. Erst nach einer ganzen Weile brachte sie es fertig, den Blick abzuwenden. Flehentlich sah sie den jungen Mann an ihrer Seite an.
»Das ist nicht wahr«, hauchte sie. »Das kann nicht Thomas sein!«
»Glaubt mir, er ist es. Ich war bei seiner Hinrichtung«, antwortete Daniel. Die Einzelheiten ersparte er ihr.
Mit Tränen in den Augen sah Kitty noch einmal zu dem Gehängten hinüber. Das Gesicht war zu zerstört, die Züge aufgedunsen, die Haut verfärbt und zerfetzt, als dass es ihr möglich gewesen wäre, etwas Vertrautes darin zu finden. Doch ein Gefühl tief in ihrem Innern sagte ihr, dass dieses erbärmliche Wrack ihr Bruder Thomas war.
Widerstandslos ließ sie es zu, dass Daniel den Arm um ihre Schultern legte und sie zur Kutsche zurückführte. Als sich das Gefährt in Bewegung setzte, blickte Kitty ihn verzweifelt an.
»Was ist geschehen?«
»Thomas Marshall wurde wegen Straßenraubs gehängt«, erklärte Daniel.
»Aber das kann nicht sein! Mein Bruder war kein Verbrecher.«
»Er wurde von Jonathan Wild verhaftet und vor Gericht gebracht. Da spielt es keine Rolle, ob jemand schuldig ist oder nicht. Wild erzielt stets eine Verurteilung.«
»Soll das heißen, er hat meinen Bruder zu Unrecht beschuldigt?«, rief Kitty entsetzt.
»Es wäre nicht das erste Mal«, erwiderte Daniel ernst. Dann besann er sich und sagte streng: »Vergesst, was ich gesagt habe. Euer Bruder ist tot, und nichts wird ihn Euch zurückbringen.«
»Aber warum hat mir niemand gesagt, was mit Thomas passiert ist?«, murmelte Kitty verständnislos. »Ich habe so viele Leute nach ihm gefragt. Sie müssen es doch gewusst haben.«
Daniel zuckte die Schultern. »Die Menschen eilen zu den Hinrichtungen wie zu einem unterhaltsamen Schauspiel, aber tags darauf haben sie die Namen der Unglücklichen, die sie haben hängen sehen, schon wieder vergessen. Und diejenigen, die sich noch erinnerten, wollten vermutlich nicht die undankbare Pflicht auf sich nehmen, einem hübschen jungen Mädchen die schändliche Wahrheit mitzuteilen.«
»So wie Ihr«, stieß sie hervor. »Ihr wusstet es die ganze Zeit und habt mir nichts gesagt.«
»Um Euch Schmerz und Enttäuschung zu ersparen«, entgegnete Daniel sanft. »Niemand sollte etwas Derartiges durchmachen müssen.«
Kitty war wie betäubt. Noch fühlte sie nichts, kein Leid, keine Trauer. Ihre Augen blickten leblos ins Nichts, und ihre Glieder waren trotz der schwülen Wärme, die der Regen nicht vertreiben konnte, zu Eis erstarrt. Sie hatte noch nicht wirklich begriffen, dass dies kein Alptraum war, aus dem sie früher oder später erwachen würde.
»Ich werde Euch zu Eurer Unterkunft zurückbringen«, sagte Daniel bestimmt. Er
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