Die Lady in Weiß
ihrem Mann vereint zu sein.
Er hatte von Anfang an gewusst, dass es so kommen würde. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie er sie in jener ersten Nacht weggeschickt hatte, wie entschlossen er gewesen war, sich nicht mit einer verheirateten Frau einzulassen, wie reizvoll oder wie einsam sie ihm auch Vorkommen mochte. Wie schade für sie beide, dass er nicht bei dieser Entscheidung geblieben war.
Er trat an das offene Fenster und wischte sich mit einem Handtuch das Gesicht ab. Von diesem Zimmer aus konnte man, wie von fast jedem anderen beliebigen Punkt in Neapel, das Meer sehen. Das Licht der untergehenden Sonne tauchte Capri und die übrigen, kleineren Inseln in zartes Rosa, das einen wunderschönen Kontrast zum tiefen Blau des Wassers bildete. Die gestreiften Segel der heimkehrenden Fischerboote ragten zwischen den Inseln empor, während Fischer mit ihren Frauen am Strand ihre Netze zum Trocknen ausbreiteten.
Irgendwo in der Nähe sang eine Frau ein Lied, dessen Text Jeremiah nicht verstand. Aber die traurige Melodie passte zu seiner Stimmung. Die Fensterläden waren von einer Kletterpflanze mit weißen, trompetenähnlichen Blüten überwuchert, deren Duft jetzt am Abend noch intensiver zu werden schien.
Caro mit ihrer ständigen Bereitschaft, sich an Neuem und Schönem zu erfreuen, wäre von der Szene, die sich ihm hier darbot, entzückt. Seit er manche Dinge mit ihren Augen sah, hatte er gelernt, das Leben wieder zu würdigen, und er bedauerte sehr, dass sie nicht hier war, um diesen Augenblick mit ihm gemeinsam zu genießen.
Er wandte sich ab und zog sich ein Hemd an. Heute Abend würde er ihr nichts von dem sagen, was er am Hafen erfahren hatte, nichts von dem englischen Bettler und auch nichts von den offiziellen Nachrichten. Sie würde morgen noch früh genug erfahren, dass ihre Chancen sich erheblich verschlechtert hatten. Er war noch immer entschlossen, wegen David und auch wegen Frederick nach Tripolis zu gehen, aber inzwischen war nicht einmal mehr sicher, dass er selbst lebend zurückkehren würde. Mit einem Seufzer zog er seinen Mantel über und ging die Treppe hinunter, um auf sie zu warten.
Das Gasthaus gehörte einem Engländer, der mit einer Neapolitanerin verheiratet war, und die Einrichtung war eine seltsame Mischung aus beiden Kulturen. Die Reihen von Zinnkrügen und das Fass mit Rum hinter der Bar hätte man in jeder englischen Grafschaft finden können, aber nicht die kleinen Bildnisse von Heiligen mit traurig blickenden Augen, die um den Kamin herum hingen. Und der Duft nach stark gewürzten Speisen, der von der Küche herüberwehte, stammte ganz gewiss nicht aus einer englischen Wirtschaft.
Jeremiah fand einen leeren Platz am Fenster. Er bestellte Rum und Wasser, die er dem im Hause üblichen Rotwein vorzog. Ungeduldig strich er sich mit den Fingern durchs Haar und blickte die Straße entlang in die Richtung, die Caros Mietdroschke genommen hatte. Sie hatte gesagt, sie würde gegen fünf zurück sein, und auf seiner Uhr war es jetzt halb sechs.
„Hat Lady Byfield mir eine Nachricht geschickt?“, fragte er die Wirtstochter, als sie seinen Becher aus einem tönernen
Krug nachfüllte. „Vielleicht wurde sie aufgehalten?“
„Die englische Lady, die mit Ihnen zusammen angekommen ist, Sir?“, fragte das Mädchen, und Jeremiah nickte. „Nein, kein Wort, Sir. Aber wenn eine Nachricht kommt, dann bringe ich sie Ihnen sofort, Sir, das verspreche ich.“ „Danke. “ Er drehte den Becher in seiner Hand hin und her. Auf einmal hatte er keinen Durst mehr. Er saß allein da und sah zu, wie die Schatten länger wurden und die Dämmerung allmählich der Dunkelheit wich.
Vielleicht, dachte er missmutig, wollte sie es auf diese Art enden lassen. Sie brachte ihre Meinungsverschiedenheit mit der alten Countess in Ordnung, zog als Gast in ihre Villa, schickte einen Boten mit einer Nachricht für ihn, in der sie um Verzeihung bat, und ließ ihre Sachen holen. Wenigstens würde er in dem Bewusstsein abreisen, dass sie hier in Neapel sicher war.
„Hier, Sir, für Sie.“ Das Mädchen knickste und reichte ihm einen Brief. Er riss ihn ihr aus der Hand. „Die Lady kam zur Hintertreppe herein. Sie wollte wegen der späten Stunde keine Umstände machen.“
Es war ihr Siegel mit dem Wappen der Byfields. Im Nu hatte er es aufgebrochen und überflog die kurze Nachricht.
Mein lieber Captain, verzeihen Sie mir, ich wäre heute keine gute Gesellschafterin. Morgen wird es besser sein. Gruß,
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