Die Lady in Weiß
Caroline.
„Wann ist sie gekommen?“, fragte er und strich mit dem Finger über das gebrochene Siegel.
„Oh, das ist noch nicht lange her, eine Viertelstunde etwa. Soll ich Ihre Antwort überbringen?“
„Nein“, sagte er und seufzte. „Keine Antwort.“
„Wird die Lady noch kommen, Sir?“, fragte das Mädchen ängstlich. „Soll ich das Abendessen holen?“
„Nein, Kind, weder noch. Ich habe keinen Hunger mehr, und die Lady auch nicht.“ Er trank seinen Becher leer, dann ließ er sich vom Wirt eine Kerze geben und stieg langsam die Treppe hinauf.
Während er in der Jackentasche nach seinem Schlüssel suchte, bemerkte er den Lichtstrahl, der unter der Tür hindurchschien. Er runzelte die Stirn. Er wusste, dass er das Licht gelöscht hatte, bevor er weggegangen war, und inzwi-schen wäre jede Kerze niedergebrannt. Instinktiv zog er das Messer hervor, das er immer bei sich trug, und schob die Tür vorsichtig mit dem Fuß auf.
„Jeremiah?“, rief Caro ängstlich.
„Caro?“ Schnell steckte er das Messer zurück, während er ins Zimmer kam und die Kerze auf den Kaminsims stellte. „Was, um Himmels willen, tust du hier?“
„Ich war einsam“, sagte sie. Sie saß mit angezogenen Beinen auf einer Bank am Fenster und hatte die Arme um die Knie gelegt. Ihr Haar glänzte im Kerzenlicht. Der Himmel hinter ihr war voller Sterne, und die Sichel des Mondes spiegelte sich im Meer. Er hatte die Aussicht schon vorher wunderschön gefunden, jetzt, mit ihr im Vordergrund, erschien ihm der Anblick geradezu märchenhaft.
Sie legte den Kopf auf die Knie und sah ihn an. „Willst du mich nicht fragen, wie ich hier hereingekommen bin?“
Er schüttelte den Kopf. „Wir sind in Neapel, nicht im Haus meiner Schwester. Vom König an abwärts erwartet man von niemandem, dass er sich anständig verhält. Wahrscheinlich musst du hier die Dienerschaft bestechen, damit du dein Zimmer behalten darfst.“
Caro lachte. „Dann hätte ich mir das Geld sparen sollen.“ „Jedenfalls ist es eine nette Überraschung“, sagte er. Er zog erst den Mantel, dann die Weste aus und warf beides auf seine Seekiste. Dann befreite er sich auch von seinem Halstuch, den Schuhen und den Strümpfen. Es war warm im Zimmer, und wie die meisten Seeleute fühlte er sich am wohlsten, wenn er nur wenig Garderobe tragen musste und barfuß gehen konnte. Nach den vielen Wochen, die sie gemeinsam in der kleinen Kabine verbracht hatten, erschien ihm diese Ungezwungenheit in Caros Anwesenheit ganz selbstverständlich. Und nur, weil sie jetzt in einem Gasthaus in Neapel waren, in einem Schlafzimmer sogar, war er sich einer ungewohnten Spannung zwischen ihnen bewusst. „Ich fühlte mich nämlich auch etwas einsam.“
Sie lächelte und dachte daran, dass er so etwas in jener ersten Nacht niemals zugegeben hätte. Sie sah ihm gern zu, wie er im Zimmer umherging. Auch seine einfachsten Bewegungen waren leicht und anmutig. Er sieht so gut aus, dachte sie, und für einen kurzen Moment stockte ihr der
Atem, und sie liebte ihn so sehr. Es konnte nicht falsch sein, was sie tat.
„Es tut mir leid wegen des Abendessens“, sagte sie leise. „Aber ich wollte dich allein sprechen.“
Sie erhob sich von der Bank, und er sah sie an. Er konnte nicht anders. Sie trug einen Morgenrock aus tiefblauer Seide, der beinahe von derselben Farbe war wie der Nachthimmel hinter ihr. Der Stoff, so fein und leicht, dass er beinahe durchsichtig war, schmiegte sich an ihren Körper.
„Das hast du an Bord der Raleigh nie getragen“, sagte er mit leiser Stimme. Er hatte sie nie anders als in Schwarz oder Weiß gekleidet gesehen. Verdammt, er hatte noch nie eine Frau gesehen, die so etwas trug. Sie sah aus wie die leibhaftige Versuchung, und er hatte das Gefühl, dass die Temperatur im Raum erheblich angestiegen war.
„Ich habe es auch erst heute Nachmittag gekauft.“ Die Art, wie er sie aus halbgeschlossenen Augen ansah, ließ sie vor Erregung erschauern. Ehe sie Jeremiah begegnet war, hatte sie diesen durchdringenden, begehrlichen Blick beunruhigend, ja sogar beängstigend gefunden, aber jetzt war sie nur aufgeregt. „Die Geschäfte in Neapel haben sich, wie mir scheint, dem hiesigen Verständnis von Anstand angepasst.“
„So etwas würdest du in Providence vergeblich suchen.“
„In Portsmouth ebenfalls.“ Sie lächelte scheu. „Es gefällt dir also?“
„Oh ja. Es gefällt mir. Es gefällt mir sogar sehr.“ Was, um alles in der Welt, hatte die alte Frau am
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