Die Lady mit dem Bogen
Echo, den strengen Ton, den sie anschlug, wenn sie die jüngeren Mitschwestern in der Kunst des Bogenschießens unterwies.
Seht ihr, dass Arm und Bogen ganz gerade sind? Mein Arm ist gerade, aber nicht steif. Fasst den Bogen nicht zu fest an. Es beeinflusst die Bahn des Pfeils, wenn ihr ihn losschickt.
Sie spannte die Sehne, bis diese ihre Lippen und ihr Kinn berührte, und runzelte kurz die Stirn. Von rechts waren Schritte zu hören. Noch mehr Eindringlinge? Sie verdrängte die Geräusche und konzentrierte sich auf einen Mann, der in den Mondschein trat. Ihr Pfeil war auf seine schmalkrempige Kopfbedeckung gerichtet. Ließ sie die Sehne los, würde der Pfeil losschnellen, auf den Mann zu.
Der als Ziel Ausersehene sah zu ihr hin und versetzte dem Mann neben ihm einen Stoß auf den Arm. Das Gelächter verstummte, als die Männer sich umdrehten und entdeckten, dass Mallory auf sie zielte. Trotz des spärlichen Lichtes konnte sie Schock und Entsetzen in den Mienen der zwei Männer erkennen, die vor den anderen standen.
Ein Mann drängte sich an ihnen vorüber, blieb aber im Dunkeln.
»Legt den Bogen hin, Schwester«, sagte er ruhig, doch hallte seine tiefe Stimme über den Hof, als hätte er die gespannte Sehne gezupft. »Wenn Euch der Pfeil irrtümlich auskommt …«
»Wenn er auskommt, dann nicht irrtümlich«, erwiderte Mallory, verärgert über seinen überheblichen Ton. Als die Männer einander beklommen ansahen, setzte sie hinzu: »Sagt mir, was Ihr in St. Jude’s Abbey zu suchen habt.«
»Haltet ein, Lady Mallory!«, ertönte ein Befehl. Die Autorität der Frauenstimme ließ erkennen, dass sie sofortigen und unbedingten Gehorsam gewohnt war. Doch war es die Art der Anrede, die Mallory so schockierte, dass sie zur Reglosigkeit erstarrte.
Den Titel Lady hatte sie bei ihrem Eintritt ins Kloster abgelegt. Nur zu gern hatte sie sich Schwester nennen lassen, da sie damit Teil der Ordensfamilie wurde und jede Verbindung mit ihrem leiblichen Vater abbrechen konnte, der sich nicht um sie gekümmert hatte, seitdem sie ihr Heim verlassen und den Weg nach St. Jude’s Abbey angetreten hatte. Hatte er nach fünf Jahren beschlossen, sie aus ihrem neuen Leben, das sie liebte, zu reißen? Aber warum sollte er einer Frau gestatten …
Nun traten zwei Frauen ins Licht, das aus den Fenstern fiel, hinter denen immer mehr Schwestern erwachten und entdeckten, wer sich vor der Frühmette im Hof eingefunden hatte. Die kleine, behäbige Äbtissin, die eine Fackel trug, war sofort zu erkennen. An ihrer Seite schritt eine größer gewachsene Frau, die Mallory seit ihrem letzten, zwei Jahre zurückliegenden Besuch nicht mehr gesehen hatte. Die Zeit hatte in dem Gesicht, das auf dem Porträt im Empfangsraum der Äbtissin noch ganz glatt war, ihre Spuren hinterlassen, doch Eleanor d’Aquitaine war noch immer ganz Schönheit und Anmut, jeder Zoll Königin von England und aller seiner Gebiete jenseits des Kanals.
Mallory, die auf die Knie fiel, hielt den Pfeil an der Sehne für den Fall, dass die Königin ihr befahl, auf die Männer zu schießen. Sie würde alles tun, was die Königin von ihr forderte, auch wenn sich bei dem Gedanken, mit einem Pfeil auf das Herz eines Menschen zu zielen, sich ihr Magen zusammenkrampfte. Während der Jahre, die Mallory im Kloster verbracht hatte, war die Königin zwei Mal gekommen und hatte den Beistand einer der Schwestern gesucht, die ausgebildet worden waren, ihr zu dienen. Nach dem ersten Besuch hatte jeder der Schwestern sich gefragt, wann die Reihe an ihr sein würde, der Königin in Zeiten der Bedrängnis beizustehen.
Wie viel Weisheit hatte Königin Eleanor bewiesen, als sie vorausblickend erkannt hatte, dass sie einmal eine Einrichtung wie St. Jude’s Abbey brauchen würde! Mallory wünschte, sie hätte nur einen Bruchteil dieser Voraussicht besessen. Dann wäre auch sie eine an ein Wunder grenzende Ausnahmeerscheinung gewesen wie Königin Eleanor, eine Frau, die zwei Könige geheiratet und einem das Leben geschenkt hatte.
»Erhebt Euch, Lady Mallory«, befahl die Königin. Mallory, die gehorchte, hielt den Bogen gesenkt. Ihre Finger zitterten, etwas, das sie nicht mehr erlebt hatte, seitdem sie im Kloster ihre Heimat gefunden hatte, und sie wollte nicht riskieren, dass der Pfeil vom Bogen schnellte. Langsam verringerte sie die Spannung der Sehne, so dass der Pfeil nur gerade nach unten auf den Boden fallen konnte.
»Warst du im Begriff, einen dieser Männer zu töten?«, fragte die
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