Die Lady mit der Feder - Roman
eisernen Schlüssel. »Sie befinden sich in einer Metallkassette, die sich mit diesem Schlüssel öffnen lässt. Sie müssen unversehrt bleiben, und, wichtiger noch, sie dürfen nur der Königin übergeben werden.«
»Was für Dokumente?«, fragte Isabella, als sie den Schlüssel entgegennahm.
Die Äbtissin stand da und knetete ihre Hände, ein Zeichen, dass sie bekümmert war. »Die Königin ließ die Dokumente bei Walter de Coutances zurück, als dieser Bischof von Lincoln war, doch wurde er vergangenes Jahr zum Erzbischof von Rouen ernannt. Es ist unwahrscheinlich, dass er die Papiere mit sich nahm, da er sie ohne Erlaubnis der Königin nicht an einen anderen Ort gebracht hätte.«
»Warum sind diese Papiere so wichtig?« Sie spannte die Schultern, als sie die Frage stellte, und erntete wieder einen schmerzhaften Stich.
»Sie enthalten die Information, dass Prinz Richard nicht mehr länger auf den Thron zu warten gedenkt und einen neuerlichen Aufstand gegen seinen Vater erwägt.«
»Schon wieder?« Diesmal konnte sie sich das Lachen nicht verbeißen. »Er und seine Brüder haben wiederholt gezeigt, dass der König ihnen als Kriegsstratege weit überlegen ist.«
»Wie wahr.« Die Äbtissin fuhr fort, die Hände zu reiben. »Und ebenso ist wahr, dass diese Kämpfe in den Territorien des Königs auf dem Kontinent verbrannte Felder und Dörfer hinterließen. Ich möchte nicht, dass es auch in England so weit kommt. Und die Königin ebenfalls nicht. Auch bangt die Königin um das Leben ihres geliebten Sohnes Richard und um die Zukunft Englands, sollte John zum König gekrönt werden.«
»Sagt mir, wo die Papiere zu finden sind. Ich werde sie holen und der Königin bringen.«
»Das ist das Problem. Niemand scheint zu wissen, wo die Kassette sich befindet. Die Königin bat den Erzbischof, dafür zu sorgen, dass sie nicht ihrem Gemahl in die Hände fällt. Sie könnte also in der Kathedrale, in seiner Residenz oder sonst irgendwo in der Stadt sein.«
»Wenn man mit dem Erzbischof in Verbindung träte …«
»Das könnte den Argwohn des Königs wecken. Ihr müsst die Papiere finden und der Königin vor Ablauf des Monats übergeben. Ich habe nun alles gesagt, was ich weiß. Jetzt liegt es an Euch, den Auftrag der Königin auszuführen, Lady Isabella.«
Sie zuckte zusammen, als sie den Titel hörte, den sie erhalten hatte, als sie sich dem Dienst an der Königin verschrieb. Es war ein Titel, den sie im Zusammenhang mit ihrem Namen nie gehört hatte. Gut möglich, dass man sie so genannt hatte, ehe sie und ihre Mutter von ihren Halbbrüdern vor ihrem sechsten Geburtstag kurz nach dem Tod ihres Vaters in ein
Kloster gesteckt worden waren. Damals stritten ihre Brüder um das väterliche Erbe, und nach dem Wenigen zu schließen, was sie von ihrer Familie erfuhr, lagen sie noch immer in Fehde miteinander. Kein Mensch hatte ihr sagen können, welchen Ort ihre Mutter gewählt hatte, um sich - freiwillig oder nicht - von der Welt zurückzuziehen und ihr Leben möglichst entfernt von den Familiengütern unweit eines Bergsees im Nordwesten Englands zu führen. Ob ihre Mutter Gemma de Montfort noch am Leben war, hatte Isabella nie in Erfahrung bringen können.
Sie durfte nicht an ihre Mutter denken. Sie sollte sich lieber überlegen, wie sie den Auftrag der Äbtissin ausführen konnte. Ratlos, wie sie die Papiere finden solle, wusste sie freilich, dass es nur eine Antwort gab, die die Äbtissin hören wollte. »Ich werde mich bei Tagesanbruch auf den Weg nach Lincoln machen.«
»Ihr werdet bei Tagesanbruch nach Kenwick Castle aufbrechen.« Der Ton der Äbtissin war wieder von wohl bekannter Autorität gefärbt.
Wohl wissend, dass es geradezu tollkühn war, die Worte der Äbtissin zu hinterfragen, wenn sie in diesem Ton sprach, konnte Isabella sich die Frage nicht versagen: »Warum soll ich dorthin? Das bringt mich meilenweit von meiner Route ab, und wenn die Sache dringend ist …«
»Sie ist dringend, da Ihr vor Anfang Mai zur Königin gelangen müsst. Deshalb sollt Ihr jemanden an Eurer Seite haben, der Euch unterwegs beisteht. Er wird Euch helfen, durch die Stadt zu gelangen, die viele, selbst vom König noch nicht entdeckte Geheimnisse birgt.« Die Äbtissin trat auf Isabella zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich konnte meinen
Neffen nicht bitten hierherzukommen, da wir selbst Geheimnisse hüten. Wie ich hörte, weilt er auf Kenwick Castle, wo Ihr ihn antreffen werdet. Sagt ihm, dass Ihr heilkundig seid
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